Mirjam Kristensen: "Ein Nachmittag im Herbst"
Die
Geschichte einer Suche nach einem verlorenen geliebten Menschen
Sie kennen einander schon seit sieben Jahren und sind seit
fünf Jahren glücklich verheiratet, die beiden
Norweger Rakel und Hans Olav. Als sie eine lange geplante Reise nach
New York unternehmen, besuchen sie auch das Metropolitan
Museum of Arts.
Der Saal mit Bildern von La Tour hat es insbesondere Hans Olav angetan.
Fasziniert und gebannt steht er vor dem Porträt einer Frau,
als Rakel plötzlich und dringend zur Toilette muss. Er sagt,
er warte hier vor dem Bild auf sie, wobei er, wie Rakel sich
später erinnern wird, schon sehr abwesend und zerstreut
reagiert.
Als Rakel einige Minuten später von der Toilette
zurückkommt, ist Hans Olav verschwunden. Was sich
zunächst für sie noch wie ein
Missverständnis anfühlt, gestaltet sich in den
nächsten Stunden zu einer großen Aufregung. Nirgends
kann sie Hans Olav finden. Die Museumsmitarbeiterin Nicole, die sie
anspricht und die sie in der Folge der Handlung in den
nächsten Tagen wiederholt aufsuchen wird, kann ihr nur
mitteilen, das ihr ein Mann aufgefallen ist, auf den Rakels
Beschreibung passt. Dieser habe, nachdem er lange vor dem
Frauenporträt La Tours gestanden sei, an der Seite einer Frau
den Saal verlassen.
Rakel kehrt ins Hotel zurück, denn zu Beginn der Reise hatte
ihr Mann vorgeschlagen, für den Fall, dass man sich in der
großen Stadt aus den Augen verliere, sich zwei Stunden
später im Hotel zu treffen. Doch dort war Hans Olav nicht;
alle seine Kleider und die Flugscheine für den
Rückflug sind noch da.
Zunächst besucht Rakel die Norwegerin Hanna, eine Freundin
ihrer Mutter, die sie seit Ewigkeiten nicht gesehen hat, und die Rakels
Mutter mitgeteilt hatte, die beiden Urlauber seien ihr herzlich
willkommen. Rakel erzählt ihr atemlos und aufgeregt die
Geschichte , worauf Hanna nur eine Frage stellt, und zwar, ob die
beiden noch ineinander verliebt seien.
"Ich bin verwirrt, hatte nicht damit gerechnet, dass sie mich
so etwas fragen würde. Ich hatte gedacht, sie würde
mir helfen, die Polizei zu verständigen. Ich antworte nicht,
kann nicht antworten. Hanna sieht mich erwartungsvoll an. Ich kriege
kein Wort heraus, werde nur rot und heiß im Gesicht, merke,
wie ich unter den Armen feucht werde."
Rakel ist sicher, dass Hans Olav sie nie verlassen würde.
Dennoch: Er bleibt verschwunden, und auch eine Suchaktion, die ihre aus
Norwegen herbeigeeilten Schwiegereltern und ihr Schwager veranstalten,
endet ohne Ergebnis. Immer wieder sucht sie Nicole im Museum auf und
den Buchhändler William Hermann, der ihr Hans Olavs
Brieftasche, die er gefunden hatte, ins Hotel brachte. Sie verbindet
mit diesen vielen Gesprächen die Hoffnung, irgendwann einen
kleinen Hinweis zu finden, wo ihr Mann sein könnte, oder
wenigstens Vermutungen in Bezug auf die quälende Frage, warum
er so plötzlich aus ihrem Leben verschwunden ist.
Doch alles ist vergebens ...
Mirjam Kristensen, die in Norwegen für ihre beiden ersten
Romane schon etliche Preise und Auszeichnungen erhalten hat,
erzählt in diesem kleinen Buch die ebenso bedrückende
wie beklemmende Geschichte einer Suche nach einem verlorenen geliebten
Menschen. Sensibel und dicht schafft sie sprachlich eine
Atmosphäre der Leere und Verzweiflung, in die sich ein Mensch
mit einer solchen Erfahrung gestürzt sieht.
Ina Kronenberger, die auch schon viele Bücher von
Dag
Solstad,
Per Petterson und
Anna
Gavalda übersetzt hat, trägt mit ihrer
hervorragenden Übertragung ins Deutsche nicht unwesentlich zur
sprachlichen Qualität dieses empfehlenswerten und reifen
Romans bei, dessen Protagonistin nicht an ihrem Schicksal verzweifelt
und auf eine ganz eigene Art zu einer alten, lange nicht mehr
praktizierten religiösen Lebensbewältigung
zurückfindet.
(Winfried Stanzick; 03/2009)
Mirjam
Kristensen: "Ein Nachmittag im
Herbst"
(Originaltitel "En ettermiddag om høsten")
Aus dem Norwegischen von Ina Kronenberger.
Dörlemann Verlag, 2009. 223 Seiten.
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Mirjam Kristensen, 1978 geboren, stammt aus Lyngdal in Norwegen. Ihr
Debütroman erschien im Jahr 2000. Sie erhielt verschiedene Preise und Stipendien
für ihre Werke, und ihr erster Roman wurde ins Französische übersetzt. Ein
Nachmittag im Herbst ist ihr dritter Roman. Mirjam Kristensen lebt in
Kristiansand.
Noch ein Buchtipp:
Silvio Blatter: "Zwei Affen"
Die Liebe zur Kunst - die Kunst des Liebens.
Im Zentrum des Romans steht ein Bild, kaum größer
als ein Bogen Papier:
Pieter
Bruegels "Zwei Affen", gemalt 1562. Martin Holm, ein
Geschäftsmann
aus Amsterdam, fliegt 1976 nach Berlin, um das Gemälde zu
sehen. Im Museumssaal
trifft der Mittvierziger auf die Malerin Lore. Sie kopiert die "Zwei
Affen"
einmal im Jahr, befragt das Bild wie ein Orakel. Auch für
Martin Holm wurde das
Gemälde einst zum Spiegel seines Lebens, als es 1945 seinen
Fluchtinstinkt schärfte.
Sechzehnjährig leistete er im Thüringer Salzbergwerk
Kaiseroda seinen Dienst fürs
Vaterland und bunkerte von der SS aus Berlin
angekarrte Kisten voll Goldbarren, Platin, Silber und Gemälden
im
bombensicheren Schacht ein. Ein halbes Leben später hat er nur
noch einen
Wunsch: Die "Zwei Affen" zu besitzen. Und als Lore ihn in Amsterdam
besucht, bahnt sich nicht nur eine rätselhafte
Liebesaffäre an, sondern auch
eine verzwickte Kriminalgeschichte, die in Zürich, Edinburgh
und Amsterdam
spielt und, deren Irrungen und Wirrungen 2006
in
Berlin, wo alles
begonnen hat,
ein überraschendes Ende finden.
In einer wunderbar sinnlichen, genauen Sprache erzählt Silvio
Blatter ebenso
eindringlich vom Wesen der
Malerei
wie von dem der Liebe. Ein
großer Roman um
Tausch und Täuschung, um Freiheit und beklemmende Enge, um
Leidenschaft und
Verbrechen. (DuMont Buchverlag)
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