Ursula Krechel: "Shanghai fern von wo"


Von Menschen, die versuchen, das Überleben zu lernen

Nach der Pogromnacht am 9. November 1938 war vielen deutschen und österreichischen Juden endgültig klar, dass sie schnellstens das Land verlassen mussten, um der Deportation in die Konzentrationslager zu entgehen. Vieltausendfach ist seit dieser Zeit die Tragik von Flucht, Ausreiseverhandlungen, Passierscheinen und Ablehnungen derselben beschrieben worden. Viele suchten in Nord- und Südamerika Zuflucht, Andere auch in den europäischen Nachbarländern, die sich dann aber oft als nicht sicher erwiesen, weil sie im Laufe des im September 1939 von Hitler begonnenen Zweiten Weltkriegs von den Nazis besetzt und sofort mit ihren entsprechenden Judengesetzen überzogen wurden. So wurden Länder wie Holland, Norwegen und Frankreich oft zu tödlichen Zufluchtsfallen für viele Juden.

Der vorliegende Roman der Schriftstellerin und Lyrikerin Ursula Krechel erzählt von einem historischen Zeitfenster, das insgesamt 18.000 Juden aus Deutschland und Österreich eine schnelle und nur kurz andauernde Möglichkeit bot, ihr Leben zu retten. In ihrem Buch "Von Wien nach Shanghai" berichtete Vivian Jeanette Kaplan anno 2006 schon davon, wie ihre Familie bei dieser einmaligen Gelegenheit ihr Überleben sicherte.

1938 hatten die Japaner Shanghai besetzt und so völlig vom Festland abgeschirmt. Vom Meer aber war es ohne Visum erreichbar, und diese Gelegenheit war für 18.000 Menschen jüdischer Abstammung lebensrettend. Sie hatten kurzfristig eine Schiffspassage nach Shanghai ergattert und sahen ihrer neuen Zukunft mit großer Hoffnung entgegen. Zu Hause in Wien oder Berlin wurde Shanghai schnell zur "Arche Noah", dem alten Bild der Rettung vor einer vernichtenden Flut.

Dass sie bei ihren unfreiwilligen und völlig ahnungslosen Gastgebern nicht gerade willkommene Gäste waren, war für alle nicht nur überraschend, sondern ein Schock. Liest man den vorliegenden Roman, spürt man auf beinahe jeder Seite, dass sich die zu Hause so schön imaginierte "Arche Noah" als ein Zufluchtsort herausstellte, in dem unsägliche Not und nacktes Elend, beißender Hunger, schlimme Krankheiten und gänzliche Unfreiheit herrschten.

Ursula Krechel recherchierte für dieses wirklich großartige Romanprojekt, in dem sie das Schicksal jüdischer Emigranten in Shanghai detailliert beschreibt, viele Jahre lang. Das Buch fügte sie auf eine auch sprachlich und künstlerisch gelungene Weise aus zahllosen authentischen Berichten zusammen, die sie vor allem in der Wiener Library in London, aber auch in vielen anderen Archiven gefunden hat.

"Was ist Tausig für ein Mensch?"
So beginnt ein fünfhundertseitiger Roman, der nicht nur die Geschichte jenes jungen Rechtsanwaltes aus Temesvar, Tausig, und seiner Frau Franziska erzählt, sondern auch die seines Freundes Ludwig Lazarus, eines Berliner Buchhändlers, den er auf der Flucht kennenlernt.
Es wird vom Uhrmacher Kronheim, dem Kunsthändler Brieger und den Rosenbaums, die mit einem Koffer voller Lederhandschuhe nach Shanghai gekommen sind, weil sie dort einen Handel beginnen wollen, erzählt.

Mittendrin hat Ursula Krechel wie in einer Art künstlerischem Selbstgespräch Stellen eingeflochten, worin sie große Künstlerschicksale beschwört, etwa als sie Lothar Brieger Briefe an Walter Benjamin nach Paris schreiben lässt, die allerdings unbeantwortet bleiben, oder indem sie Virginia Woolfs Selbstmord erwähnt und Gertrude Steins Hund.
Die Autorin begleitet auf eine ganz eigene Weise ihre Protagonisten zwischen 1938 und 1948 durch einen Abgrund. Dabei erfindet sie ziemlich wenig, stützt sich immer wieder auf Briefe und Berichte und schreibt auch über den vom damaligen jungen Rundfunkattaché Erwin Wickert geleiteten NS-Propagandasender.

Besonders die Rückkehr der Protagonisten nach Deutschland ist genauestens dokumentiert. Es treibt einem die Tränen in die Augen zu lesen, wie diese Menschen wie Ludwig Lazarus, Ernst Kronheim und Lothar Brieger damals behandelt und "entschädigt" wurden.
Ursula Krechel hat viele Details in ihren Roman einfließen lassen und viele politische Anmerkungen gemacht. Entstanden ist ein wunderbarer , großer und ernster Roman, der sich wie ein Geschichtsbuch liest und in der Reihe der Literatur des jüdischen Exils nach 1938 einen ganz besonderen Platz einnehmen und auch behalten wird. Da ist sich der Rezensent sicher.

Dem kleinen Jung und Jung Verlag kann man zur Veröffentlichung dieses bewegenden Überlebensromans nur gratulieren. Er ist ein weiterer Meilenstein in einem beachtlichen Verlagsprogramm.

(Winfried Stanzick; 05/2009)


Ursula Krechel: "Shanghai fern von wo"
Gebundene Ausgabe:
Jung und Jung, 2008. 500 Seiten.
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Taschenbuchausgabe:
btb, 2010.
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Ursula Krechel wurde 1947 in Trier geboren. Studium der Germanistik, Theaterwissenschaft und Kunstgeschichte. Lehrtätigkeit an verschiedenen Universitäten.

Ein weiteres Buch der Autorin:

"Landgericht"
Nach "Shanghai fern von wo" geht Ursula Krechel noch einmal den Spuren deutscher Geschichte nach. "Landgericht" handelt vom Exil und von den fünfziger Jahren, von einer Rückkehr ohne Ankunft.
Was muss einer fürchten, was darf einer hoffen, der 1947 aus dem Exil nach Deutschland zurückkehrt? Die deutsche Nachkriegszeit, die zwischen Depression und Aufbruch schwankt, ist der Hintergrund der fast parabelhaft tragischen Geschichte von einem, der nicht mehr ankommt. Richard Kornitzer ist Richter von Beruf und ein Charakter von Kohlhaas'schen Dimensionen. Die Nazizeit mit ihren absurden und tödlichen Regeln zieht sich als Riss durch sein Leben. Danach ist nichts mehr wie vorher, die kleine Familie zwischen dem Bodensee, Mainz und England versprengt, und die Heimat beinahe fremder als das in magisches Licht getauchte Exil in Havanna.
Ursula Krechels Roman lässt Dokumentarisches und Fiktives ineinander übergehen, beim Finden und Erfinden gewinnt eine Zeit atmosphärische Konturen, in der die Vergangenheit schwer auf den Zukunftshoffnungen lastet. Mit sprachlicher Behutsamkeit und einer insistierenden Zuneigung lässt "Landgericht" den Figuren späte Gerechtigkeit widerfahren. "Landgericht", der Roman mit dem doppeldeutigen Titel, handelt von einer deutschen Familie, und er erzählt zugleich mit großer Wucht von den Gründungsjahren einer Republik. (Jung und Jung)
Dieser Roman wurde im Jahr 2012 mit dem "Deutschen Buchpreis" ausgezeichnet. zur Rezension ...
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Leseprobe:

Als Herr und Frau Tausig in Shanghai ankamen, niedergedrückt, hatten sie Glück im Unglück. Nach dem Lotsen und den Beamten von der Einwanderungsbehörde kamen Europäer und Chinesen in einem großen Pulk an Bord, gut gekleidete Leute, manche hatten auch einen eigenen Dolmetscher mitgebracht, sie zeigten auf einen Namen und eine Berufszeichnung in den Einwandererlisten, ließen die Person aufrufen und fragten wieder nach den Fertigkeiten, sie hatten Arbeitsplätze zu vergeben. Mit der Gewißheit, etwas sehr Gesuchtes bieten zu können, als Retter und Gönner traten sie auf, ernst und gewichtig, und die Passagiere, die in eine Wartehalle geführt worden waren, gerieten sofort in Habtachtstellung. Barfrauen waren sehr gesucht, aber Frau Tausig war keine Barfrau und wollte auch keine werden. Auch Handwerker wurden gebraucht, besonders Schuster oder besser noch Maßschuhmacher, das war ein feiner Beruf, und er wäre in Wien auch ein feiner Beruf geblieben, wenn der, der ihn ausgeübt hatte, nicht Jude gewesen wäre. Ein Rechtsanwalt hatte schlechte Karten, besonders schlechte Karten, wenn er nicht mehr jung und schwerhörig war. Auch Lazarus wurde nicht müde zu sagen: "Die Anwälte waren im Grunde so gut wie verloren, denn was sollten sie mit dem deutschen oder dem österreichischen Recht in China." Er wußte von einigen, die bei chinesischen Gerichten zugelassen waren, und ein Jurist, der in Breslau Richter gewesen war, wurde von der Jüdischen Gemeinde in Shanghai beim Schiedsgericht angestellt, das war auch nicht jedermanns Sache. Herr Tausig hatte sich auf die Emigration vorbereitet, indem er einen Kurs im Maschinenstricken gemacht hatte. Eine Strickmaschine mit vielen klappernden Zähnchen, nicht nur zwei Nadeln, sondern einem ganzen Gebiß: das war der letzte Schrei. Und er hatte auch ein Produkt seiner neu erworbenen Tätigkeit mitgebracht, einen Schal, den er seiner Frau gestrickt hatte. Den drehte und knäuelte er in der Hand, aber niemand interessierte sich für sein Produkt. Ja, hätte er eine Strickmaschine mitgebracht aus Europa! Exporteur von Strickmaschinen nach Fernost, das wäre es vielleicht gewesen, allerdings hätte er einen Handelspartner in Österreich haben müssen, aber wer hätte in Gemeinschaft mit einem Juden handeln wollen? Wer hätte sich getraut? So war er am Ende in Wien nicht einmal mehr in der Lage gewesen, eine Strickmaschine anzuschaffen. Die Schiffspassage hatte das letzte Geld verschlungen. Kochen und Backen waren ein weites Feld, Franziska Tausig sah nicht aus wie eine Köchin oder Bäckersfrau, aber die österreichische Küche hatte einen guten Ruf. Ein Herr rief ihren Namen auf, sie kam vor, wollte ihm die Hand zur Begrüßung geben, eine Gewohnheit, die sie schnell verlernen mußte in Shanghai, aber er wollte sie zunächst nur betrachten, betrachtete sie von oben bis unten, die vom Meer zerzauste Frisur, ihr gut geschnittenes, aber verdrücktes marineblaues Kostüm mit einigen Perlmuttknöpfen zwischen Brust und Taille, er betrachtete ihre Hände, Klavierhände, und den Ehering daran, der Blick schweifte zum Rock und den Strümpfen, die viel zu warm waren in der Gluthitze Shanghais, aber eine Dame in Wien trug Strümpfe, sein Blick rutschte hinunter zu ihren Riemchenschuhen. Frau Tausig fühlte sich taxiert wie ein Pferd, so war sie noch nicht angesehen worden, aber es half nichts, sie hielt es aus. Plötzlich hatte der Mann genug gesehen von ihr und fragte sie geradeaus ins Gesicht: Können Sie Apfelstrudel backen? Ich hörte, Sie sind Wienerin. Frau Tausig bejahte erst die eine und dann die andere Frage, und sie bejahte energisch. Kommen Sie morgen in mein Restaurant, sagte der Mann. Wenn sie Apfelstrudel backen können, einen anständigen Wiener Apfelstrudel, dann stelle ich Sie als Köchin ein. Apfelstrudel hatte sie schon gebacken, manche gelingen, manche nicht, so sind Apfelstrudel nun einmal, launische Burschen sind sie mit einem eigenen Kopf, in dem sie Rosinen haben. Tief vergraben im warmen Backofenbauch lassen sie es sich wohlsein, während der Bäcker, die Bäckerin vor ihnen schwitzt und in die Knie geht. Jeder, der Apfelstrudel backt, weiß das. Können Sie Apfelstrudel backen? Es half nichts, Frau Tausig wollte und mußte die Frage ein weiteres Mal bejahen. Und später, nachdenkend, schreibend, glaubte sie, die Frage freudig bejaht zu haben, die Zweifel schluckte sie hinunter. (...)

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