Martín Kohan: "Zweimal Juni"
Terror
im Innern
Argentinien - ein Land, welches die meisten spontan mit Tango, Gauchos,
der weiten Pampa und mit Diego Maradonas spektakulärem
Fußball assoziieren. Aber diese südamerikanische
Republik hat auch eine äußerst unrühmliche
Vergangenheit. Namen wie Videlas und Masseras, Freunde des chilenischen
Generals Pinochet, rufen bei vielen traumatische Erinnerungen hervor.
In den Jahren von 1976 bis 1983 wurde das Land von einer
Militärdiktatur regiert, die zu den blutigsten in ganz
Lateinamerika gehörte. Ein Zeitraum von sieben Jahren, in dem
die größte Tragödie geschah, die
Argentinien in seiner Geschichte jemals erfuhr, nachdem es sich im
Jahre 1816 von Spanien unabhängig gemacht hatte. Nach
Schätzungen von Menschenrechtsorganisationen beläuft
sich die ungefähre Zahl an Opfern auf 30.000 Personen.
Andersdenkende und politisch engagierte Menschen wurden
entführt und in über das Land verteilten geheimen
Haftzentren gefoltert und ermordet. Gezielt machten sich die Folterer
daran, auch das Schicksal der nachfolgenden Generation massiv zu
verändern und das in ihren Worten "subversive Erbe"
auszumerzen. Schwangere Frauen hielt man in der Haft trotz Folter
so
lange am Leben, bis sie ihre Kinder zur Welt gebracht hatten. Diese
wurden dann illegal von Familien oder Freunden der Militärs
adoptiert und mit den "richtigen Werten" erzogen.
In dieses Szenario - die Winter der Jahre 1978 und 1982 - versetzt
Martín Kohan den Leser. Als Erzähler fungiert ein
junger Rekrut, ein namensloser Mitläufer der
Militärdiktatur, der als Chauffeur des hochrangigen
Militärarztes Doktor Mesiano seinen Dienst bestreitet. Kurz
nach seiner Einberufung findet er im Benachrichtigungsbuch seiner
Einheit einen Eintrag des diensthabenden Feldwebels, der ihn in
Aufregung versetzt: "Ab wieviel Jahren kann man ein Kind
folltern?" Doch nicht die Signifikanz des Geschriebenen
lässt ihn echauffieren, sondern der eine Buchstabe zuviel in
diesem eminenten Satz. Denn kaum "etwas störte mich
so sehr wie Rechtschreibfehler", stellt er fest. Mittels des
danebenliegenden Kugelschreibers gelingt es ihm "aus den zwei
zum Glück nah beieinander stehenden l eines zu machen, dem nur
bei genauem Hinsehen anzumerken war, dass es das Ergebnis einer
geschickten Korrektur darstellte, ein wenig fett vielleicht, aber
letztlich doch ein l, wie es sich gehörte."
Permanentes Relativieren und Herabsetzen des augenblicklichen
Geschehens
Die menschenverachtenden Mechanismen der Videla-Diktatur erzeugen bei
dem beinahe sympathisch erscheinenden Icherzähler, dem mehr
oder weniger Involvierten, keine ethischen Bedenklichkeiten. Auch
nicht, als er Zeuge eines "Fachgesprächs" seines Chef wird und
jener ebendiese prekäre Frage salopp als falsch gestellt
abtut. Denn "auf das Alter kommt es gar nicht an, sondern auf
die Masse, auf das Gewicht: Das entscheidet darüber, wie viel
ein Körper aushält." Aber da das
Neugeborene offensichtlich zu wenig wiegt - die Waage des Arztzimmers
zeigt erst ein Gewicht ab fünf Kilogramm an - sei eine Folter
des Säuglings wohl nicht sinnvoll. Auch wenn dies als letzte,
wirkungsvolle Möglichkeit der kaum noch lebensfähigen
"Delinquentin" in Betracht gezogen wird, um diese doch noch zu einer
Aussage zu bewegen.
Selbst als der Ich-Erzähler mit der leidgeprüften
Frau "in Kontakt" gerät und diese ihn
anfleht, ihr Kind zu retten ("Du bist keiner von ihnen. Du
musst mir helfen."), unternimmt er nichts. Im Gegenteil, er
beschimpft die schwer gemarterte Frau auf chauvinistische Art und
Weise: "Du bist tot, du Fotze [...] Extremisten helfe ich
nicht." Er reagiert ganz nach dem Gusto seines Chefs: "'Die
Guerrilleras lassen sich extra schwängern', sagte Doktor
Mesiano. 'Sie glauben, wenn sie schwanger sind, tun wir ihnen nichts.'"
Ein permanentes Relativieren und Herabsetzen des augenblicklichen
Geschehens vor sich selbst bestimmt den Standpunkt des
Erzählers, den mental eher ein gemeinsamer Bordellbesuch mit
seinem Vorgesetzten, einem treuen Kirchengänger,
beschäftigt, als die schrecklichen Dinge, deren Mitwisser er
geworden ist.
Außerdem findet in diesem Juni
gerade
die
Fußball-Weltmeisterschaft statt, bei der das
argentinische
Nationalteam auch noch als Sieger hervorgeht. Es herrscht
Massenpsychose und Massenmanipulation. Millionen sind in
chauvinistischer Jubelpose. Der Erzähler interessiert sich
mehr für Heimatclub, Trikotnummern und
Größen der aufgestellten Spieler, als für
die Verabreichung von Stromschlägen, Untertauchen als
Foltermethode und andere Verbrechen an der Menschlichkeit.
Szenische Perspektiven, kalte Sprache
Den Epilog verlegt Martín Kohan ins Jahr 1982. Der ehemalige
Rekrut hat sich mittlerweile als Medizinstudent immatrikuliert und
besucht aufgrund einer Todesanzeige seinen hochgeschätzten
ehemaligen Vorgesetzten Doktor Mesiano. Wieder wird eine
Fußballweltmeisterschaft ausgetragen. Aber Argentinien
erhält einen herben Dämpfer. Denn nicht nur der
Falklandkrieg wird verloren, sondern auch das
Fußballnationalteam scheidet in der zweiten Runde aus.
Trotz der allzeit spürbaren Schrecknisse ist der Text des
argentinischen Schriftstellers nicht vordergründig anklagend,
sondern eher subtil, diffizil, beinahe unschuldig, ja unbeteiligt, aber
gerade dadurch nahezu brillant in seiner Einfachheit. Martín
Kohan schreibt mit ausgeprägtem Sinn für ambivalente
Situationen. Sein Stil ist karg, funktional und knapp - manche der
durchnummerierten Kapitel umfassen nur wenige Zeilen - aber
äußerst präzise. Die Hauptkapitel tragen
ebenfalls Nummern, die jedoch in ihrer scheinbaren Ungeordnetheit einen
ganz speziellen Bezug zum Text offerieren. Ständig setzt der
Autor wechselseitig zwei oder mehrere Perspektiven gegeneinander, ja
beinahe szenisch ein. Viele kleine Momentaufnahmen werden miteinander
verschränkt. Die kalte Sprache scheint nahezu mathematisch
kalkuliert und hektisch. Ob ihrer Schnelligkeit lässt sie dem
Leser während der Lektüre kaum Zeit für
Reflexionen. Diese setzen erst nach dem Zuschlagen der letzten Seite
ein. Dann versucht man, aus den vielen kleinen Splittern auf eigene Art
und Weise ein stimmiges Bild zusammenzusetzen. Erst jetzt entstehen aus
scheinbaren Banalitäten schockierende Erkenntnisse mit langer
Nachwirkzeit.
Der Übersetzer Peter Kultzen hat den prägnanten Ton
des Autors großartig ins Deutsche übertragen.
Ein dunkles Kapitel argentinischer Geschichte hat Martín
Kohan im beinahe wie ein fragmentarisches Puzzle anmutenden Roman
"Zweimal Juni" verarbeitet: die argentinische Militärdiktatur,
ihre grauenvollen Machenschaften und das scheinbare Unbeteiligtsein,
das Desinteresse, die Ignoranz ihrer Mitläufer,
Erfüllungsgehilfen und Opportunisten. Nicht die Taten werden
moralisierend hervorgehoben, sondern die Tatenlosigkeiten. Ein Buch,
das ungeheuer nachdenklich macht, auch ohne dass das Grauen mit
direkten Worten beschrieben ist.
(Heike Geilen; 06/2009)
Martín
Kohan: "Zweimal Juni"
(Originaltitel "Dos veces junio")
Aus dem Spanischen von Peter Kultzen.
Suhrkamp, 2009. 183 Seiten.
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"Argentinien"
Die endlosen Weiten der Pampas, gigantische Wasserfälle und Wüsten mit bizarren Gesteinsformationen - die atemberaubenden landschaftlichen Attraktionen Argentiniens zählen zu den beeindruckendsten Naturwundern der Welt. Aber auch die Hauptstadt Buenos Aires begeistert Reisende mit ihrem weltberühmten Nachtleben und ihrem reichen Angebot an Kunst und Kultur.
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César Aira: "Die Nächte von Flores"
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Familien, die obdachlos geworden sind, randalierende Jugendbanden,
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auf eine harte Probe. (Claassen)
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Barbara Potthast, Sandra Carreras: "Eine
kleine Geschichte Argentiniens"
Seit seiner Unabhängigkeit von
Spanien
ist das Land, das
Schriftsteller wie Borges,
Tangosänger wie Carlos Gardel und Ikonen wie Evita
Perón
hervorgebracht hat, von einer wechselvollen Geschichte gezeichnet:
Brutale
Diktaturen folgten auf populistische Regierungen, und die
Wirtschaftskrise von
2001 bedeutete für große Teile der
Bevölkerung den Verlust ihres gesamten Hab
und Guts. Daneben blüht das kulturelle Leben vor allem in der
Hauptstadt Buenos
Aires, die mit zahlreichen Buchhandlungen, Theatern und Kinos
glänzt.
Der Band behandelt die politischen, sozialen und kulturellen
Entwicklungen in
Argentinien, angefangen bei der Kolonialzeit, über die
Unabhängigkeit bis hin
zu den heutigen Herausforderungen, denen das Land sich stellen muss.
(Suhrkamp)
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Ein weiteres Buch von Martin Kohan:
"Sittenlehre"
Buenos Aires, Anfang 1982: Dicke Mauern umgeben das streng traditionelle Elitegymnasium Colegio Nacional, in dem die junge María Teresa ihre Stelle als Aufseherin angetreten hat. Außerhalb der Mauern herrschen die Militärs, der Falkland-Krieg ist in vollem Gange. Drinnen soll María Teresa die strikte Einhaltung der Disziplin überwachen. Sie ist nur ein kleines Glied in der Kette, aber sie will es gut, ja peinlich genau machen. Schließlich ist Ordnung der sicherste Halt in einem Leben, in dem die Mutter in der Küche Kriegsnachrichten hört und der Bruder verstörend rätselhafte Postkarten aus der Etappe schickt. Eines Tages geht sie in ihrem Überwachungseifer so weit, dass sie sich in der Jungentoilette einschließt, um einen Schüler in flagranti zu ertappen, den sie im Verdacht hat, heimlich zu rauchen. Mit ebendiesem Schritt gelangt ihre
Moral in eine eigentümliche, beunruhigende Schieflage.
Darf die Darstellung des Schrecklichen ins Komische kippen? Soll man sich in eine Mitläuferin einfühlen? Martín Kohan ist ein blitzwacher Beobachter und ein kompositorischer Meister des Nebeneinanders von Banalem, Bösem und Groteskem. (Suhrkamp)
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