Michael Köhlmeier: "Die Musterschüler"
"Züchtigt
ihn!"
oder Sein und Machen
Täglich liefern die Medien neue Bilder der Gewalt: Brutale
Schlägereien, Amokläufe
an Schulen oder von Eifersucht getriebene Ehedramen. Wenn das Stichwort
"Gewalt" fällt, fühlen wir uns alle hilflos. Was
treibt Menschen
dazu, Gewalt anzuwenden? Dies hat auch den österreichischen
Autor Michael Köhlmeier
in seinem 1989 geschriebenen stark autobiografischen Roman "Die
Musterschüler"
bewegt. "Das war meine Hauptfrage",
erklärte er in einem
Interview. "Es ist sicher eine Frage, die mich auch in meinen
anderen Büchern
zentral beschäftigt. In diesem Fall war es aber die zentrale
Frage: Wie
entsteht Gewalt?"
Es geht um die kollektive Misshandlung eines Mitschülers am
30. November 1963.
Gebhard Malin, so heißt der Prügelknabe, wird dabei
so schwer verletzt, dass
man nicht weiß, ob er jemals wieder gesund wird. 25 Jahre
später will keiner
die Verantwortung übernehmen. Ort des Geschehens ist ein
katholisches
Jungeninternat - genannt "das Heim" - mit strengen
Regeln. Die
Schüler der unteren drei Klassen schlafen in einem Schlafsaal,
beaufsichtigt
von einem Schlafsaalcapo aus den höheren Klassen, der
monatlich wechselt und
seine Willkür an den Jüngeren unterschiedlich
auslässt.
Auch die Heimleitung bzw. -aufsicht, besonders gefürchtet der
Präfekt,
"herrscht" mit gewisser Selbstjustiz. Psychischer und seelischer
Terror sind an der Tagesordnung. Um in den Ferien nach Hause fahren zu
können,
müssen die Buben zuerst die Hürde einer
Lateinprüfung über sich ergehen
lassen, deren Ergebnis der Präfekt kollektiv auswertet. Aber
einer hat versagt
- Malin. Die 14- bis 15-jährigen Gymnasiasten können
sich ihre Heimreise nur
mit einem vom Präfekten angeordneten "Züchtigt
ihn!" verdienen.
Es geht um Gewalt von oben aber auch um
Gewalt
unter den
Schülern. Nur wo ist
der Punkt, an dem man hätte sagen sollen: Schluss - ab hier
nicht mehr weiter?
Von außen betrachtet, aus der Distanz heraus, fällt
die Beantwortung dieser
Frage recht leicht. Für die Figuren, die in der Situation
stecken, ist es
unglaublich schwieriger. Ein erstmals 1961 in New Haven
durchgeführtes
psychologisches Experiment - genannt das
"Milgram-Experiment" - zeigt
dabei genau die im Buch geschilderte Situation: die Bereitschaft von
Menschen,
autoritären Anweisungen auch dann Folge zu leisten, wenn sie
in direktem
Widerspruch zu ihrem Gewissen stehen. Auch in Köhlmeiers Roman
sind die Jungen,
obwohl die tödliche Gewalt explizit da ist, immer noch der
Meinung, dass sie
gar keine ausüben würden. Doch warum? "Als
dann die Sache ihren Lauf
genommen hat, das war ein Selbstlauf, das war wie eine Kugel, die man
den Berg
hinaufschiebt. Hinaufgeschoben haben wir die Kugel alle miteinander,
und jeder
wird seine Gründe gehabt haben, warum er das tat, ich
weiß nicht, welche, und
dann ist die Kugel oben. Herunter rollt sie von allein, und wir sind
hinterhergerannt", versucht der Erzähler zu
erklären.
Mit historischem Abstand jedoch ergibt sich ein ganz anderes Bild.
Dieses Bild
versucht der namenslose Protagonist - das Alter Ego Michael
Köhlmeiers - in
einem Frage-Antwort-"Spiel", einer ausschließlich in
Dialogform
gehaltenen Erzählung, mit seinem ebenfalls nicht benannten
Gegenüber gnadenlos
zu analysieren. Zuvor hatte er all die damals beteiligten
"Täter"
besucht. Deren Erinnerungen fließen sukzessive in seine
Analyse ein. Doch jeder
redet sich seine eigene Schuld klein, kann sich eigentlich auch kaum
noch an die
ein Vierteljahrhundert zurückliegende Begebenheit erinnern.
War ich wirklich
dabei? Hatte ich mich nicht für eine ganz andere Art der
Züchtigung
entschieden? Begonnen habe ich ganz bestimmt nicht ...
"Immer nimmt man einen Anlass für eine Ursache. Weil
man nichts anderes
bekommt. Man sagt, das war der Anlass, und sucht nach der Ursache und
findet
doch wieder nur einen Anlass. Und schließlich hat man sich
bis zu einem Ende
durchgefragt, und das Warum ist beantwortet, aber nichts ist geschehen
... Ein
Katalog von Anlässen (...) Diese
Was-wäre-wenn-Spiele, sind das nicht
letztlich Rechtfertigungen? Dass die Schuld abgeschoben wird - auf
jemand
anderen oder auf irgendwelche Umstände?"
Köhlmeiers Alter Ego sucht
die "Kerbe im Gesicht", seine eigene und die der
Anderen. Er
sucht nach einer Zeit des Versagens in der eigenen Vergangenheit, "weil
wir einerseits des Erfolges überdrüssig sind,
andererseits aber vor einem zukünftigen
Versagen Angst haben. Das ist das Kreuz, das wir Musterschüler
zu tragen
haben." Sein Roman offenbart wie alle seine Bücher
einmal mehr großartige
Charakterstudien.
Fazit:
"Die Musterschüler" ist ein Buch über menschliche und
kollektive
Schuld sowie teilweise fehlendes Schuldbewusstsein. Es zeigt die
Zerrissenheit,
die aus der Verdrängung von selbiger resultiert, wie
schmerzlich
Selbsterkenntnis ist und dass die Auseinandersetzung mit der eigenen
Schuld
keine Konsequenzen erspart. Gleichzeitig ist es aber auch eine
Aufarbeitung
erlittener Kränkungen durch die Religion und
persönlicher Beschädigungen während
Michael Köhlmeiers eigener Internatszeit.
Nicht zuletzt gibt der Roman ein wunderbares Zeitzeugnis der
beginnenden 1960er-Jahre.
Ein frühes Werk des österreichischen Autors - ein
großartiges Buch.
(Heike Geilen; 08/2009)
Michael
Köhlmeier: "Die Musterschüler"
dtv, 2009. 608 Seiten.
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Noch
ein Buchtipp:
Michael Köhlmeier: "Mitten auf der Straße. Die
Erzählungen"
Michael Köhlmeiers Erzählungen beginnen oft mit einem
schlichten, ganz
einfachen Satz, und doch ist man sofort mittendrin: "Ich
hatte einen
Fehler begangen, einen empfindlichen." Es geht in diesen
Geschichten
nicht um die ganz großen Themen, es geht darum, was nebenbei
und zwischendurch
passiert. Die Erzählung "Auf Bücher
schießen und andere
Kleinigkeiten" handelt von einem Traum, "Mut am Nachmittag" von
einem Mann, der traurig ist. "Ein freier Nachmittag",
"Unterhaltungen in der Küche" - davon erzählt der
Autor meisterhaft,
und irgendwann kommt dem Leser der Verdacht, dass es hier vielleicht
doch um das
ganze Leben geht. Sein großer Roman "Abendland"
hat Kritiker wie Leser begeistert; in diesem Band, in dem auch sechs
neue Erzählungen
enthalten sind, kann man sich überzeugen, dass Michael
Köhlmeier immer schon
eines war: der Meister der kleinen Form. (Deuticke)
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