Urs Jaeggi: "Wie wir"


Um es gleich vorweg zu sagen: Dieses Buch ist mir fremd geblieben, ging lange nicht an mich heran, und als ich es dann länger zur Hand nahm und las, erreichte es mich nicht. Vielleicht auch deshalb, weil die Erwartungen andere waren.

Urs Jaeggi war mir aus den frühen 1980er-Jahren als Autor der Romane "Brandeis" und "Grundrisse" bekannt, Bücher, in denen er literarisch seine Existenz als Geisteswissenschaftler und als Mann reflektierte. Auch seine Einlassungen zur damals aktuellen Politik habe ich immer mit Sympathie verfolgt, dann verlor ich ihn irgendwann aus dem Blick. Es mag mit seiner Schwerpunktverlagerung zur Künstlerexistenz zusammenhängen, für die er sogar seine Hochschullehrerlaufbahn aufgab.

Seit etwa 1985 sind seine Bücher rar, seine Kunstwerke dagegen zahlreich geworden, die er seitdem in vielen Einzel- und Gruppenausstellungen in Europa und Amerika gezeigt hat.

Nachdem er im Jahr 2008 mit dem Essayband "Durcheinandergesellschaft" mit Reflexionen zu zahlreichen Fragen der Gegenwart literarisch wieder auf sich aufmerksam gemacht hat, legt er mit "Wie wir" einen Roman vor, in dem der Autor, aus Australien kommend, wo er eine Beziehung mit einer Frau namens Sara hatte, nach Europa reist und in Italien ein fast verlassenes Irrenhaus besucht.
Die Situation, die er in Volterra vorfindet, und die Menschen, denen er dort begegnet, bilden die Folie für eine fantastische literarische Reise durch das Land seiner sprudelnden Ideen und Assoziationen mit unzähligen Weisheiten gespickt. Es geht um die Frage, was tatsächlich wirklich ist, mit einer Haltung, die Urs Jaeggi im Alter noch verdichtet hat, wie er in einem Interview mit dem "Tages-Anzeiger" sagt: "Im Zurückschauen kann ich sagen, es hat mich herausgetrieben und treibt mich heraus. Sinnsuchend, skeptisch, aber neugierig."

Er beschreibt die Jahre seit seinem Auszug aus der Universität als die glücklichsten seines Lebens: "Ich wurde kreativ freier, vernünftiger und unvernünftiger: grenzenloser, experimenteller und noch offener."

Dieses Experimentelle, Grenzenlose hat sich auch auf sein Schreiben übertragen. Es ist mir trotz mehrfacher Versuche, das Buch anzunehmen und dem Autor auf seiner Gedankenreise zu folgen, nicht gelungen, es wirklich wertzuschätzen.

Das finde ich schade, aber so ist das mit manchen Büchern: Man spürt, hier ist ein großer Literat am Werk, aber seine Sprache, sein Ausdruck, seine Bilder und Metaphern erreichen einen nicht. Und man schließt dann das Buch, fast traurig darüber, weil man spürt, man hat mit diesem Nicht-Verstehen etwas verpasst.

(Winfried Stanzick; 09/2009)


Urs Jaeggi: "Wie wir"
Orell Füssli Verlag, 2009. 140 Seiten.
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Urs Jaeggi wurde 1931 in Solothurn geboren. Ausbildung zum Bankkaufmann, Studium der Nationalökonomie und Soziologie in Genf, Bern und Berlin, Dr. rer. pol. Uni Münster, Sozialforschungsstelle Dortmund, ab 1961 am Soz. Institut der Uni Bern, 1966 erster Inhaber des neuen Lehrstuhls für Soziologie an der Ruhr-Universität Bochum, 1970/71Gastprofessur in New York, 1972-1992 Ordinarius am Institut für Soziologie der FU Berlin.
Urs Jaeggi starb am 13. Februar 2021 in Berlin.