"Die Enzyklopädie des Isidor von Sevilla"
Übersetzt und mit Anmerkungen von Lenelotte Möller
Am
Anfang war das Wort:
Isidors Panoptikum der Antike
Als um 630 der spanische Bischof Isidor von Sevilla (um 560-636) seine
Enzyklopädie,
die Etymologiae, abschloss und dem westgotischen König Sisebut
widmete, konnte
er höchstens ahnen, dass sein Hauptwerk in 20 Büchern
Werk in zweierlei
Hinsicht das Ende einer Epoche markierte: Er ist der letzte bedeutende
Autor,
der am Übergang zu den modernen romanischen Sprachen mit
gesprochenem Latein
als Muttersprache aufwuchs. Zudem versucht er, die antike Welt und das
Wissen über
diese Welt in einer Enzyklopädie zusammenzufassen und alle
Einzelphänomene
durch Begriffsklärung aus dem "wahren Wortsinn"
(ἔτυμον)
zu deuten. Gleichzeitig will Isidor in diesem Werk im Glauben
unterweisen und
Gotteserkenntnis vermitteln, auch als Deutung aus dem Wortsinn. Er
verbindet die
Tradition der klassischen Antike mit dem Alten und dem Neuen Testament
und hebt
den Vorrang des Alten Testaments hervor, indem er z.B. Moses, David und
Salomon
gegenüber Homer,
Hesiod
und anderen heidnischen Schriftstellern als älter einordnet.
So wird den
griechischen und römischen Autoren, als Nachfolgern der
alttestamentarischen
Verfasser, ihre Bedeutung für die
christliche Weltauffassung
zugewiesen.
Mit seinem Werk prägte Isidor das Wissen seiner Epoche bis in
die frühe
Neuzeit hinein; besonders wirksam waren die ersten drei
Bücher, die über das
literarische Trivium (Grammatik, Rhetorik, Dialektik) und das
mathematische
Quadrivium (Arithmetik, Geometrie, Astronomie und Musik) handelten.
Somit
definierte Isidor jegliche höhere Bildung im Mittelalter.
Sein Werk, u.a. in der Tradition von Wissenssammlungen wie die
Naturalis
historia von Plinius d.Ä., hat die deutsche Altphilologin und
Theologin
Lenelotte Möller in voller Komplexität auf
über 700 Seiten wiedergegeben.
(Obwohl die Etymologiae in über Tausend Handschriften
überliefert sind und
erstmals schon 1472 in Augsburg gedruckt wurden, ist die vorliegende
Ausgabe die
erste vollständige deutsche Übersetzung!) Um Isidors
Gedankengänge in enger
Anlehnung an den Originaltext wiederzugeben, musste aber nicht nur
übersetzt,
sondern auch umfangreich erklärt und erläutert werden.
Den Wörtern sucht Isidor durch Definition, Analogie und
Differenzierung auf den
Grund zu gehen, er erklärt durch Ableitung, aus dem Klang,
nach dem Urheber
einer Sache und aus anderen Ursprüngen.
Oft geht er dabei konform mit heutigen sprachwissenschaftlichen
Befunden: Als
einleitendes Beispiel im ersten Buch ("Von der Grammatik") nennt er
die Wissenschaft, lateinisch disciplina, weil sie sich vom Lernen,
discere,
ableitet; sie heißt auch Wissen (scientia), weil niemand
etwas wissen (scire)
kann, was er nicht zuvor gelernt hat. Littera (Buchstabe) hingegen
zerlegt er in
leg-iter, "Leseweg", was zwar durchaus logisch, aber
sprachgeschichtlich nicht korrekt ist. Aus den - aus heutiger Sicht
richtigen
und falschen - Etymologien zieht er gedankliche Verbindungen zwischen
Dingen und
Wörtern, baut ein paradiesisches, jedenfalls aber
vorbabylonisches Weltbild auf
sprachlicher Grundlage. Damit rettet er in seiner Enzyklopädie
für die
Nachwelt, was schon zu seinen Lebzeiten zerfiel: die sprachliche
Einheit der
ehemals weströmischen Reichsgebiete.
Zuweilen erscheinen uns Isidors Herleitungen heute skurril, fast
lächerlich:
Das Schaf
(ovis)
ist ein Tier mit wehrlosem Körper, das seinen Namen von
oblatio (Opfergabe)
hat, weil Schafe von den Heiden häufig im Gottesdienst
geopfert wurden. Auch
aries (Widder, Schafbock) wird auf das Opfer am Altar (arae)
zurückgeführt.
Agnus (Lamm), obwohl es die Griechen
αγνός (heilig,
unbefleckt) nennen, hat diesen lateinischen Namen, weil es seine Mutter
auch in
einer großen Herde sofort am Blöken erkennt
(agnoscere). Der Hase
(lepus) ist ein levipes, ein Leichtfuß, weil er so schnell
rennt. Cuniculi
(Kaninchen) sind eigentlich caniculi (Hundehintern), weil ihnen Hunde
hinterher
jagen. Und immer wieder findet man beim Blättern in Isidors
lateinischem
Bestiarium, dem Buch XII, "Von den Tieren", ein Beispiel, das noch
bizarrer anmutet: Die castores (Biber) sind von castrare
(kastrieren)
benannt. Denn ihre Hoden sind als Heilmittel geeignet, weswegen sie,
wenn sie
einen Jäger wittern, mit Bissen ihre Manneskraft abtrennen.
Das Buch, eine gelungene Einführung in das spätantike
Wissen und sein
sprachliches Erbe, ist auch ein
Argument für die Erlernung des
Lateinischen.
Der Leser muss sich tief in diese Sprache einlassen. So sehr sich die
Übersetzerin
auch anstrengt, um durch Ergänzungen in Klammern und
Fußnoten Isidors
Wortbefunde auf unser heutiges Wissen, wissenschaftlich gesicherte
Etymologien,
literaturgeschichtliche Hinweise und inhaltliche Erklärungen,
zu beziehen, ist
die Lektüre nur mit grundlegenden Lateinkenntnissen
möglich und interessant.
(Wolfgang Moser; 01/2009)
"Die
Enzyklopädie des Isidor von Sevilla"
Übersetzt und mit Anmerkungen von Lenelotte Möller.
Marixverlag, 2008. 735 Seiten.
Buch
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Dr. Lenelotte Möller studierte Geschichte, Latein und evangelische Theologie in Saarbrücken, Basel und Mainz; die Promotion in Geschichte folgte im Jahr 2000.