Arnaldur Indriðason: "Kälteschlaf"

Island-Krimi


Kommissar Erlendur wird mit übersinnlichen Phänomenen konfrontiert

"Kälteschlaf" ist der nunmehr achte Band einer ganz erstaunlichen Krimireihe aus Island. Sein Autor, Arnaldur Indriðason, gilt mittlerweile als der wichtigste einer ganzen Reihe von bemerkenswerten und erfolgreichen isländischen Kriminalschriftstellern, und seine Bücher wurden mittlerweile in mehr als ein Dutzend Sprachen übersetzt.

Der Protagonist dieser Reihe ist ein Kriminalkommissar namens Erlendur, Mitte Fünfzig, im Team arbeitend mit einer Kollegin und einem Kollegen und mit einer besonderen Vorliebe für Fälle ausgestattet, die ungelöst geblieben sind. Seine unerschütterliche Hartnäckigkeit geht den Kollegen zeitweise arg auf die Nerven, doch Erlendur verfolgt seine privaten Recherchen vom Alltagsgeschäft relativ unbehelligt.

In "Kälteschlaf" sind es zwei besonders alte Fälle, die er wieder hervorholt, und ein aktueller Selbstmord, der ihn stutzig macht. Die alten Fälle und der neue Fall haben nicht direkt miteinander zu tun, und doch befördern die durch Zufall (über den in diesem Buch oft philosophisch nachgedacht wird) erlangten Erkenntnisse im einen den Ermittlungsfortschritt in anderen Fall.

Erlendur brütet über jahrzehntelang geöffneten Akten zweier verschwundener Menschen: eines jungen Mannes namens David und eines Mädchen namens Gudrun. Davids Vater hat es sich fast 30 Jahre lang zur Übung gemacht, in zuletzt länger werdenden Abständen beim damals ermittelnden Erlendur im Kommissariat vorbeizuschauen, um zu fragen, ob es Neuigkeiten bei der Suche nach seinem verschwundenen Sohn gibt. Nun liegt der alte Vater im Altenheim im Sterben, und Erlendur möchte ihm so gerne vor seinem Tod die Nachricht bringen, dass David, der lebensfrohe Junge, sich damals nicht ungebracht hat. Als er nach langen Recherchen die Ursachen des Unfalltodes des frischverliebten Paars David und Gudrun herausfindet, ist unklar, ob ihn der Vater noch hören kann ...

Anders ist es mit dem aktuellen Fall, der ihm an einem kalten Herbsttag auf den Schreibtisch flattert. Am See von Pingvellir wird die Leiche einer jungen Frau aufgefunden. Augenscheinlich hat sie Selbstmord begangen. Eine Freundin Marias, die Erlendur befragt, kann sich das jedoch überhaupt nicht vorstellen. Immer weiter dringt Erlendur in die Lebensgeschichte Marias ein, die in den letzten Jahren ein zunehmendes Interesse am Leben nach dem Tod entwickelt hat. Ihr Ehemann Baldvin, ein Arzt mit einer sich im Verlauf des Buches entblätternden mysteriösen Vergangenheit, tut unschuldig und reagiert auf Erlendurs immer hartnäckiger werdende Besuche gereizt.

Dann erhält der Kommissar von einer Freundin Marias den Mitschnitt jener Séance zugespielt, an der Maria teilgenommen hat, weil sie mit ihrer Mutter in Kontakt treten wollte, die ihr kurz vor ihrem frühen Tod versprochen hatte, ihr aus dem Jenseits eine Botschaft zu schicken.

Erlendur ist skeptisch gegenüber solchen spiritistischen Praktiken, doch er lässt sich darauf ein. Indriðason beschreibt die Überlegungen seiner Personen sowie ihre Spekulationen über Jenseits und Leben nach dem Tod ohne Wertung, wenn er auch wohl mit seinem Kommissar eine eher nüchterne Sicht der Dinge teilt.
Erlendur gräbt immer tiefer, indem er immer mehr Menschen, auf die er im Rahmen seiner Ermittlungen stößt, befragt und das Puzzle langsam vervollständigt. Und ein lange verborgenes Geheimnis um Marias Familie beginnt sich zu lüften ...

Auch seiner eigenen Kindheit kommt Erlendur in diesem achten Band der Reihe näher. Der Geschichte mit seinem verschollenen Bruder, der von einer gemeinsam mit ihm und dem Vater unternommenen Wanderung, die in einem Schneesturm endete, nicht zurückgekommen ist. Man beginnt langsam zu verstehen, warum sich Erlendur schon vor langer Zeit von seiner Frau getrennt hat; man bekommt einen Eindruck davon, warum seine beiden Kinder so große Probleme in der Vergangenheit hatten.

Obwohl "Kälteschlaf" des Rezensenten erste Begegnung mit der Erlendur-Reihe darstellte, war ihm die Hauptfigur gleich eigentümlich nahe. Arnaldur Indriðason zeichnet seinen Kommissar als einen nachdenklichen Menschen mit einer nach wie vor unbearbeiteten eigenen Geschichte, der sich nicht zuletzt deshalb so sensibel und feinfühlig, aber auch so verbissen und nachhaltig in die Probleme anderer Menschen hineinversetzen kann, denen er bei seiner Arbeit begegnet.

(Winfried Stanzick; 10/2009)


Arnaldur Indriðason: "Kälteschlaf"
Übersetzt von Coletta Bürling.
Gustav Lübbe, 2009. 381 Seiten.
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Hörbuchausgabe.
Lübbe Audio, 2009. Sprecher: Walter Kreye.
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Weitere Bücher des Autors (Auswahl):

"Codex Regius"

Kopenhagen in den 1950er-Jahren: Die Begegnung mit seinem Professor stellt Valdemars bisher beschauliches Leben völlig auf den Kopf. Der junge Isländer war nach Dänemark gereist, um über die alten Pergamenthandschriften zu forschen. Er kommt düsteren Geheimnissen auf die Spur und macht sich zusammen mit dem Professor auf die Suche nach einer Reihe verlorengegangener Manuskripte. Ihre Jagd führt die beiden durch halb Europa, und nicht selten geraten sie dabei in große Gefahr - denn für diese wertvollen Kulturschätze sind andere bereit, über Leichen zu gehen ...
Die mittelalterlichen isländischen Handschriften sind Islands bedeutendster Beitrag zur Weltliteratur. Ohne sie hätten wir nur bruchstückhafte Kenntnisse über die nordische Vorzeit. (Lübbe)
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"Todesrosen"
Das junge Mädchen ist nackt, und der Fundort der Leiche bietet ein makabres Szenario. Sie liegt auf dem mit Blumen geschmückten Grab des isländischen Freiheitskämpfers Jón Sigurðsson. Warum wurde die Tote dorthin gelegt? Was soll diese Inszenierung? Kommissar Erlendur und seine Kollegen von der Kripo Reykjavík sind ratlos. Die Tote war heroinabhängig, und so beginnen er, Sigurður Óli und Elínborg die Ermittlungen in der Drogenszene. Eine Spur führt sie in die Westfjorde Islands, in die Gegend, aus der die Tote - und auch Jón Sigurðsson - stammen. Gibt es hier tatsächlich einen Zusammenhang? Die Hintergründe in diesem Mordfall aufzudecken gestaltet sich als ausgesprochen heikel, denn namhafte Persönlichkeiten des Wirtschaftsleben gehören schon bald zum Kreis der Verdächtigen ...
Kommissar Erlendur Sveinsson ermittelt in "Todesrosen" in seinem zweiten Fall und steht auch privat aus Sorge um seine Kinder unter großem Druck. (Lübbe)
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Weitere Buchtipps:

Halldór Gudmundsson: "Wir sind alle Isländer. Von Lust und Frust, in der Krise zu sein"

Die ganze Welt ist von der Wirtschaftskrise betroffen ... Die ganze Welt? Nein! In Wirklichkeit ist es nur ein kleines Völkchen auf einer kleinen Vulkaninsel im Atlantik, die eine "Art Versuchslabor für die Weltwirtschaftskrise" darstellt, wie der isländische Schriftsteller Einar Mar Gudmundsson in der Süddeutschen Zeitung mutmaßte. "Wir Anderen" verfolgen mit gruseligem ungläubigen Staunen, wie einem vormals beliebtem Klassenprimus unversehens die Luft ausgeht. "Wir Anderen" versichern uns selbst, wie der britische Premier Gordon Brown seiner Bevölkerung, dass wir noch längst keine Isländer sind, d.h. dass es mit uns nicht wirklich so schlimm enden wird. Stimmt das? Hat die Lage in Island wirklich nichts mit uns zu tun? Wie gehen die Isländer damit um, im Fokus der ganzen Welt zu stehen und gleichzeitig die ihre so gänzlich verloren zu haben? Gibt es etwas Positives, dass sich aus der Krise ziehen lässt?
Eine subjektive Analyse von Halldór Gudmundsson, unter Mitarbeit von Dagur Gunnarsson, über die Lage auf der einstmals friedlichsten Insel der Welt, abgerundet von zehn Porträts von Betroffenen, u.a.: der isländischen Außenministerin (bei der man zeitgleich mit der Krise einen Gehirntumor entdeckt); dem Anarchisten, der bei allen Protesten mit dabei ist; dem Polizisten, der bei den Krawallen verletzt wurde; der Mittelstandsfamilie, der es bislang gut ging und die nun in der Schuldenfalle sitzt; der Journalistin, der gekündigt wurde und die nun beim Arbeitsamt vorstellig werden muss; dem Autor Hallgrímur Helgason, einem Hauptakteur bei den Protesten, der zeitgleich mit der Krise seine Scheidung erlebte ...
Inzwischen erwischt die Krise auch die anderen reichsten Länder der Welt, und überall fragt man sich: Sind wir vielleicht alle Isländer?. (btb)
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Sabine Burger, Alexander Schwarz: "CityTrip Reykjavík"
Die nördlichste Hauptstadt Europas sprüht vor Energie. Die Nachfahren der Wikinger leben tief verwurzelt in ihrer Geschichte und erfinden die Stadt doch immer wieder neu. Modernste Clubs, Kleidung und Design, eine reiche Kultur, hochwertige Gastronomie und geothermale Freibäder auch im Winter machen die isländische Hauptstadt zu einer wahren Perle im Atlantik. (Reise Know-How Verlag Rump)
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Arthúr Björgvin Bollason: "Island. Ein Reisebegleiter"
Island: Land der Trolle und der Geysire, der Gletscher und Vulkane. Immer mehr Reisende entdecken die sagenumwobene Vulkaninsel am Polarkreis. Die Hauptstadt Reykjavík präsentiert sich als aufstrebende junge Metropole mit einer lebendigen Kulturszene. Isländische Musik und Filme wurden internationale Exportschlager.
In diesem Band lädt der Autor - selbst Isländer - ein, seine Heimat zu entdecken. Auf den Spuren der großen isländischen Sagas und einheimischer wie internationaler Autoren führt er uns durch ein faszinierendes Land. (Insel)
Leseprobe:
Aus dem Vorwort:
Als ich vor einigen Jahren an einem Sammelband zum Thema "Ethnographische Landschaften im Norden der Welt" beteiligt war, der vom Smithsonian Institut in Washington herausgegeben wurde, lernte ich den russischen Anthropologen Igor Krupnik kennen. Er war viel durch die Welt gereist, um interessante Geschichten, die mit Landschaften verbunden sind, aufzuspüren und zu sammeln. Krupnik ließ mich wissen, daß Island in dieser Hinsicht einmalig sei.
Während man in anderen Ländern einige Stunden von einem geschichtsträchtigen Ort zum anderen fahren müsse, seien es in Island nur wenige Minuten. So ein dichtes Netz von "ethnographischen", mit Literatur verbundenen Landschaften habe er nirgendwo anders auf der Welt kennengelernt.
Die Worte des russischen Anthropologen kamen mir oft in den Sinn, als ich den vorliegenden Reisebegleiter durch die "literarische Landschaft" meines Heimatlandes vorbereitete.
Eine Reise nach Island ist immer eine "Wallfahrt zur Literatur", wie es der dänische Autor Paul Vad einmal ausdrückte.
Der isländische Nobelpreisträger Halldór Laxness hat das gleiche zum Ausdruck gebracht, als er in einem Artikel schrieb, die isländische Landschaft sei "von Literatur durchdrungen". Nach Laxness' Worten bewegt man sich in Island immer "im Sagaraum". Jeder Fjord, jedes Tal, jeder Fluß und jede Wüste - alles ist mit den mittelalterlichen Sagas verbunden.
Die Sagas haben unbekannte Autoren im 13. und 14. Jahrhundert auf der fernen Insel am nördlichen Rande der Welt mit Federkielen und Tinte aus Blättern der Brentraube auf Kalbshaut geschrieben.
Für die größten Manuskripte mußten über hundert Kälber ihre Haut hergeben. Die Geschichten handeln in der Regel vom Leben der Vorfahren der Schreiber, zur Gründerzeit des altisländischen Freistaates im 10. und 11. Jahrhundert. Auch wenn sie in erster Linie Dichtungen sind, geht es dabei in den meisten Fällen um reale Personen und Ereignisse, die sich in Wirklichkeit zugetragen haben.
Die Isländersagas sind, neben den Romanen von Halldór Laxness, Islands wichtigster Beitrag zur Weltliteratur. Daher spielen sowohl die Sagas als auch Laxness' Romane im vorliegenden Band eine bedeutende Rolle. Es ging mir aber auch darum, den Leser auf die Spuren anderer, außerhalb Islands weniger bekannter Autoren zu führen.
Da es in Island eine äußerst rege literarische Szene gibt, mußten solche literarische Exkursionen jedoch in Grenzen gehalten werden.
Wenn man durch ein Land reist, in dem man alle paar Minuten an Schauplätzen literarischer Ereignisse vorbeifährt, muß man einfach vieles weglassen. Der vorliegende Reisebegleiter zielt also nicht auf Vollständigkeit.
Es geht vielmehr darum, dem Leser Einblicke zu gewähren in die unsichtbare Welt, die Autoren seit Jahrhunderten in die faszinierenden Landschaften Islands "hineingedichtet" haben. Der Text soll dem Leser dazu dienen, Zugang zu dieser verborgenen Dimension der Landschaft zu finden, um sie noch "tiefer" und intensiver genießen zu können. (...)
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