Michal Hvorecky: "Eskorta"


Die Geschichte einer Geschlechtsanpassung als Metapher für die Zeit nach dem Fall der Mauer?

Der slowakische Autor Michal Hvorecky hat mit "Eskorta" seinen zweiten (in deutscher Sprache erschienenen) Roman vorgelegt.
Wer "City" gelesen hat, der weiß, Michal Hvorecky schreibt abgedreht, skurril, gut, verrückt, glänzend (politisch) unkorrekt, manchmal ein wenig narzisstisch; aber sicher keine 08/15-Literatur, die nach Ruhm oder Weltvermessung strebt.

"Eskorta" beginnt mit den Worten: "Ich war schon immer davon überzeugt, dass ich als Frau besser ausgesehen hätte: ein ovales Gesicht mit blasser, glatter Haut und einer kleinen Nase, kerzengerade lange und schlanke Beine, ausladende Hüften, eine schmale Taille, hellblaue Augen, blondes Haar und weiße Zähne".
Hier beginnt auch schon die Reise, die den Ich-Erzähler Michal durch viele Länder, sehr viele Betten und am Ende doch in den Körper einer Frau führen wird.

Michal, das Kind der Zweckehe eines Homosexuellen und der lesbischen, grünäugigen Helena mit den markanten Wangenknochen wächst in einem Haushalt auf, der eher an Sodom und Gomorrha erinnert, als an die richtige Umgebung für die Entwicklung eines Kindes. Schon früh kommt er in Kontakt mit nackten Körpern und Frauen, denen die "Make-up Reste über blasse Wangen rannen, während sie sich, verwirrt durch eine nächtliche Polizeirazzia, die Röcke hochzogen".
Verhöre und Anfeindungen gehören zum Alltag des kleinen Michal, der bald folgende Theorie über die Unterschiede zwischen dem Leben in der kommunistischen Tschechoslowakei und in Westeuropa hat:
"Die Zeit verging viel langsamer.
Die Europäischen Staaten unterschieden sich noch voneinander.
Die alten Regeln galten noch.
Der Westen war im Westen.
Der Osten war im Osten."


Später wird sowohl sein Vater, als auch seine Mutter verhaftet; nach deren Freilassung der Familie angeboten wird (bzw. eher nahe gelegt wird), auszuwandern. West-Berlin in der damaligen Bundesrepublik Deutschland ist das Ziel. Die von der Haft geschwächte Mutter stirbt in Berlin, und der Vater entscheidet sich zu Michals Leidwesen nach dem Fall der Mauer für die Rückkehr nach Bratislava, in ein Land, das nur entfernt an vergangene Zeiten erinnert, jedoch versucht, neue Wege zu gehen.

Michael schließt die Schauspielschule ab, und da Auftritte Mangelware sind, begibt er sich unwillig auf die Suche nach einer geeigneten Gelderwerbstätigkeit und wird in der Grauzone zwischen Legalität und Illegalität fündig. Er wird Callboy für wohlhabende Frauen aus dem In- und Ausland. Sein rascher Aufstieg zur firmeninternen Nummer 1 und zum Liebkind der Kundinnen lässt Böses ahnen.
Nachdem das Unvermeidliche passiert; sich eine Stammkundin in Michal verliebt und ihm das Angebot des Ausstieges macht, das er ablehnt; beginnt diese einen Rachefeldzug, mit dem Ziel, Michal zu vernichten. Dafür wird sogar die Tochter als Lockvogel verwendet. Da sich zwischen der minderjährigen Tochter Juliettes und dem Luxuscallboy eine eigenartige Liebesgeschichte entwickelt, handelt Juliette wieder, was ihrer Tochter das Leben kostet.

Nun verlässt Michal Bratislava, das Ziel wieder Berlin. Drogen, Alkohol und Indifferenz bestimmen nun sein Leben, halbherzig versucht er sich in der Werbebranche und landet auch einen Coup mit einer Pharmafirma, die ihn für die Werbekampagne für ihr neuartiges Verhütungsmittel anheuert. Michal nimmt die Tabletten in übertriebener Dosierung ein (eine Art Selbstmordversuch) und bemerkt, dass er immer offensichtlichere weibliche Züge bekommt, was ihn inspiriert weitermachen lässt.
So wird aus dem ersten Satz des Romans gegen Ende zu ein Motto, und Michal mutiert zu Michaela, lakonisch vollbracht mit den Worten: "Und dann fiel mir eines Nachts der Penis ab."
Da nicht nur Michals Penis verschwunden ist, sondern an dessen Stelle eine funktionstüchtige Vagina entsteht, komplettiert sich die neue weibliche Identität des Protagonisten.
"Vom Tag der ersten Monatsblutung an nannte ich mich nicht mehr Michal, sondern Michaela."
Indem sich Michaela von einem Luxuscallboy schwängern lässt und mit Kind nach Bratislava zurückkehrt, schließt sich der Kreis nach zweihundertfünfzig unterhaltenden Seiten.

Sehr oft habe ich mir beim Lesen die Frage gestellt; was will Michal Hvorecky mit "Eskorta"?
Vieles in diesem Roman ist völlig überzogen; die Aufzählung der Kundinnenkontakte ist mitunter etwas nervend, die Liebesgeschichte zwischen Michal und der minderjährigen Sophie zumindest ethisch fragwürdig und Michals Mutation zur Frau (die mit - man verzeihe - funktionstüchtigen Geschlechtsorganen ausgestattet ist) inklusive Schwangerschaft vielleicht auf den ersten Blick daneben. Trotzdem; das, was Michal Hvorecky hier abliefert, ist gut, sehr sogar. Dieser Roman ist brillant und überzeugend erzählt.
Einige Wochen nach dem Lesen fiel mir dann auf, dass der Weg Michals im übertragenen Sinne irgendwie Parallelen zum dem Weg der Länder aus dem uns nahen Osten aufweist.
Der lustvolle aber unbefriedigende Verkauf des eigenen Körpers könnte für den Restschlussverkauf nach der Wende stehen, Michals Odyssee für die chaotischen Wendejahre; seine Mutation zur Frau, die Hvorecky mit "die neue Kreatur im Körper, die die alte Kreatur verdrängt hat" beschreibt, unter Umständen für die neue Marktwirtschaft und den in der Zwischenzeit erfolgten EU-Beitritt.

Vielleicht sind diese Gedanken auch überzogen, und "Eskorta" ist kein Roman, der die Geschichte der ehemaligen Tschechoslowakei und der heutigen Slowakei symbolisch nacherzählt, sondern einfach eine brillant erzählte, überdrehte und skurrile Geschichte, die ebenso glaubwürdig-unglaubwürdig wie so mancher Roman des magischen Realismus oder des Surrealismus ist?
Diese Frage wird vielleicht nur der Autor beantworten können, muss er aber nicht, da diese offenen Gedanken im Abgang dieses Buches sehr angenehm sind.
Ein großartiger Lesespaß ist "Eskorta" in jedem Fall.

(Roland Freisitzer; 03/2009)


Michal Hvorecky: "Eskorta"
(Originaltitel "Eskorta")
Aus dem Slowakischen von Mirko Kraetsch.
Tropen / Klett-Cotta, 2009. 250 Seiten.
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Michal Hvorecky, geboren 1976, lebt in Bratislava. Er wurde mehrfach mit Literaturpreisen ausgezeichnet und war Stipendiat des "Literarischen Colloquiums Berlin".

Zwei weitere Romane des Autors:

"City: Der unwahrscheinlichste aller Orte"

Der junge Fotograf Irvin Mirsky lebt in einer Welt, in der der globale Kapitalismus das Leben der Menschen in Besitz genommen hat. Neugeborene werden "Nivea" oder "Gucci" genannt, weil große Konzerne für die Namensgebung bezahlen. Ein Stipendium führt Irvin nach City, den unwahrscheinlichsten aller Orte, wie die neue Hauptstadt Supereuropas genannt wird. Dort versucht er der Sucht zu entkommen, die ihn seit seiner Jugend verfolgt: Er ist abhängig vom Internet. Auf der Suche nach innerer Ruhe trifft er Lina, die Frau seines Lebens. Während Lina zur Ikone der öffentlichen Revolte wird, die das Leben aus den Fesseln der Virtualität befreien will, überwindet Irvin seine Abhängigkeit und versucht die Welt seinerseits von der Übermacht der Bilder zu befreien.
Der Roman erzählt in Lichtgeschwindigkeit über Liebe und Abhängigkeit, über Manipulation und Widerstand. (Tropen / Klett-Cotta)
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"Tod auf der Donau" zur Rezension ...

Zusätzliche Buchtipps:

"Bratislava entdecken. Streifzüge durch die slowakische Hauptstadt"

Jahrhundertelang wurde Bratislava von Ungarn, Slowaken und Deutschen geprägt. 250 Jahre lang wurden hier die ungarischen Könige gekrönt; seit 1993 ist Bratislava die Hauptstadt der Slowakei. Diese wechselvolle und glanzvolle Geschichte zeigt sich dem Besucher in der Fülle von Sehenswürdigkeiten. Das Zentrum wird unter anderem von zahlreichen prächtigen Barockpalais geprägt, die der Stadt ihr einzigartiges Flair verleihen.
Dieser Reiseführer stellt die Stadt und ihr Umland kenntnisreich vor, erläutert ihre spannende Geschichte und bietet viele reisepraktische Tipps für Kultur- und Aktivurlauber.
Leseprobe:
Vorwort
Bratislava ist sicherlich auch 18 Jahre nach dem Fall des Eisernen Vorhangs die unbekannteste der großen Donaumetropolen geblieben. Sie steht nach wie vor im Schatten von Wien und Budapest, ihre Schönheiten sind auch weit weniger bekannt als etwa die des nur 320 Kilometer entfernten Prag.
Die Gründe dafür liegen vor allem in der Geschichte. Im Jahr 1918 wurden, unter Ignorierung aller historischen und kulturellen Unterschiede, der böhmisch-mährische und der slowakische Kulturraum zu dem synthetischen Staatsgebilde Tschechoslowakei vereint. Innerhalb dieses Staates wurde stets die böhmische Komponente betont, und Prag fungierte als Kapitale des Landes. Bratislava lag buchstäblich am Rand der politischen Entwicklung, die Trennung Mitteleuropas nach 1945 verstärkte diese Entwicklung erheblich. Eine der schönsten und schönstgelegenen Donaustädte geriet so nach und nach in Vergessenheit.
Jahrhundertelang verschmolzen hier am Kreuzungspunkt bedeutender historischer Handelswege die Einflüsse, die Kultur und die Sprache der Deutschen und Österreicher, der Slowaken und Ungarn. Bratislava, deutsch Preßburg und ungarisch Pozsoný genannt, war mehrere Jahrhunderte lang ungarische Hauptstadt, Krönungsort der ungarischen Könige und durch die Zeiten hindurch immer ein wichtiges Handelszentrum. Nur war es nie die Hauptstadt eines eigenständigen slowakischen Staates. Allein in den Jahren von 1939 bis 1945 gab es eine offiziell unabhängige Slowakei mit der Hauptstadt Bratislava, sie war aber lediglich ein Satellitenstaat des Deutschen Reiches.
Bratislava liegt nur 60 Kilometer von Wien entfernt und wurde und wird daher oft als deren "kleine Schwester" bezeichnet. Das ist sachlich völlig unbegründet und unverständlich, denn diese Charakterisierung wird dem ganz besonderen Charakter der Stadt nicht gerecht. Die Stadt war für die "östlichen" Völker ein Tor nach Westeuropa und bildete für jene aus dem "Westen" den Zugang ins Magyarische und Slawische, ja sogar in den Balkan hinein. Noch das heutige Gesicht der Stadt ist von diesen verschiedenen Einflüssen bestimmt, vor allem das sorgsam restaurierte Zentrum kommt in Teilen einer Begegnung mit mehreren Jahrhunderten gleich, unter denen das Barock- und Rokokozeitalter besonders präsent ist.
Diese Stadt, ihre Geschichte, ihre Bedeutung, ihre Brückenfunktion und auch ihre touristische Attraktivität vorzustellen und wieder etwas stärker in das Bewusstsein zu rücken, ist Anliegen dieses Reiseführers. (Trescher Verlag)
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Martin Leidenfrost: "Die Welt hinter Wien. Fünfzig Expeditionen"
Fünfzig literarische Expeditionen in das nah-ferne Zentrum Europas.
Martin Leidenfrost ist Österreicher und lebt seit 2004 im slowakischen Grenzort Devínska Nová Ves, auf der langsam vernarbenden Naht des Eisernen Vorhangs. Von dort sind es nur wenige hundert Meter nach Österreich, dreißig Kilometer nach Ungarn und fünfzig in die Tschechische Republik. "Die Welt hinter Wien" versammelt Geschichten aus einer Gegend, die auf vier Staaten, vier Staatssprachen und Dutzende Ethnien verteilt ist, und doch liegt alles ums Eck. Das Gebiet bezeichnet den mitteleuropäischen Zentralraum zwischen Alpen und Karpaten, irgendwo um die Städte Wien und Bratislava, Györ und Brno herum. Sie hat einige Bezeichnungen erhalten, Namen wie "Centrope" etwa, doch kaum ein Bewohner empfindet diesen von Grenzen zerfurchten Raum als eine organische Region. Von Devínska Nová Ves aus betrachtet erscheint sie indessen als eine natürliche Einheit. Ein Jahr lang tauchte Leidenfrost Woche für Woche in eine andere Sphäre, in eine andere Sprache, in ein anderes Milieu ein. Aus der Summe dieser Wanderungen entstand das Porträt einer verblüffend vielfältigen Region.
"Die Welt hinter Wien" erzählt von Anziehung und Abstoßung, von Stammesfehden und Megalopolen-Utopien, von der Schönheit, Traurigkeit und Wirklichkeit der europäischen Integration. (Picus Verlag)
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Leseprobe:

I. BRRRAATISLAVAAAA

Tell me if you can
What makes a man a man
Charles Aznavour

1.

Ich war schon immer davon überzeugt, dass ich als Frau besser ausgesehen hätte: ein ovales Gesicht mit blasser, glatter Haut und einer kleinen Nase, kerzengerade lange und schlanke Beine, ausladende Hüften, eine schmale Taille, hellblaue Augen, blondes Haar und weiße Zähne. Die festen Arme und breiten Hände waren zwar für große Gesten gemacht, doch blieben sie bei mir allzu sanft für einen Mann. Meine sterbliche Hülle wirkte trotz ihrer beachtlichen Größe von 1,91 Metern fragil. Die Schultern hätten wesentlich breiter sein müssen, der Brustkorb gewölbter, das Kinn schärfer geschnitten, die Wangenknochen markanter, der Blick energischer. Auch lange Haare hätten mir gut gestanden. Ich hatte fast keine Augenbrauen und kein einziges Härchen in den Achselhöhlen. Meine Brust blieb verblüffend glatt.

Schon seit frühester Kindheit musste ich mir immer wieder Sätze anhören wie "Das könnte aber auch eine hübsche Tochter sein!" oder "Du hättest wohl ein Mädchen werden sollen?". Noch mit neun Jahren passierte es, dass mich auf Spaziergängen mit meinen Eltern Leute ansprachen: "Na, meine Kleine, wie heißt du denn?" Wenn mein Vater sagte, dass ich Michal heiße, entschuldigten sie sich: "Verzeihung. Du bist also ein Junge? Wirklich? So ein goldiges und niedliches Kerlchen!"

Zwischen zwölf und dreizehn nahm mein Gesicht noch weiblichere Züge an. Die Veränderung meines Aussehens hatte zur Folge, dass mich Leute, die mich zuletzt mit elf gesehen hatten, entgeistert musterten. Es stach in die Augen. Auch meine Eltern hätten das bemerken müssen. Es machte den Eindruck, als könne sich meine männliche Identität nicht in vollem Umfang entfalten. So manches Detail, das andere an mir hervorhoben, betrachtete ich als Mangel. Sogar meine eigene Stimme war für mich wie die eines Fremden, denn sie klang, auch als ich erwachsen war, noch weich und zart und wenig prägnant.

Mein eigener Körper störte mich, ja, fast quälte er mich. Als wären beide Geschlechter in mir verborgen. Ich hätte zum neutralen Geschlecht gehört, wenn es so etwas gegeben hätte.

Trotz alledem wollte ich damals diese Frau noch nicht töten. Die Frau in mir.

2.

Meine Familie stammt aus der Tschechoslowakei. Dafür kann ich nichts.

In einem so winzigen Land wurde sehr aufmerksam beobachtet, woher man kam und aus was für einer Familie. Meine Vorfahren hatten sich in der Vergangenheit ihren Lebensunterhalt in den verschiedensten Berufen verdient, waren Bauern, Gutsverwalter, Soldaten und Beamte gewesen.

Als Kind sprach ich Deutsch, auch wenn das schon damals ganz unzeitgemäß war. Mein Großvater, der Rechtsanwalt Herbert Kirchner, Jahrgang 1887, gehörte zu den bekanntesten Homosexuellen in der Tschechoslowakei der Zeit zwischen den Kriegen. Er war in Böhmen geboren und damit österreichischer Staatsbürger. Seine Erziehung erhielt er auf Militärschulen, danach studierte er Jura. 1918 begrüßte er den Fall von Österreich-Ungarn und die Gründung einer eigenständigen Tschechoslowakei. Er tauschte die Uniformen gegen Anzüge mit englischem Schnitt aus, rasierte sich den Backenbart ab und widmete sich nun Jazz, Sport und Autos.

Mein Großvater wirkte auch mit fünfzig noch ungewöhnlich jung. Er war immer elegant gekleidet, und wenn er auf dem Weg in eins der Kaffeehäuser der Prager Altstadt den Graben entlang flanierte, schaute er den jungen Herren, die voller Sorge von den sie begleitenden Damen bewacht wurden, tief in die Augen. Er hatte hervorragende Manieren und wusste nicht nur, wie man sich korrekt benimmt, sondern war auch ein begnadeter Redner.

Mit deutschsprachigen homosexuellen Kreisen kam er vor allem im Café Continental in Kontakt, wo regelmäßig Kabarettvorführungen und Travestie-Shows stattfanden. Dort verkehrte er auch mit Männern, die ihre Orientierung sonst unterdrückten oder geheim hielten.

Herbert lebte in einer Mietwohnung in der Heinrichgasse, zwischen Pferdemarkt und Heuwaagplatz, wo er gemeinsam mit Freunden und unter Aufsicht eines Psychiaters mit Haschisch und Opium experimentierte. Er hatte einen außerordentlich gut entwickelten Sinn für Tanz und Musik, liebte das Ballett und die Oper und war mit Avantgarde-Künstlern befreundet, deren Namen mir nichts sagten. Seine Bibliothek umfasste angeblich die zweitgrößte Sammlung erotischer Literatur in Mitteleuropa.

Als erster tschechoslowakischer Rechtsanwalt forderte er die Entkriminalisierung der gleichgeschlechtlichen Liebe. Strafen für Homosexuelle wurden auf böhmischem Territorium im 18. Jahrhundert eingeführt: Ihnen wurde der Kopf abgeschlagen und dieser dann mit dem Rest des Körpers verbrannt. Beischlaf mit einem Nichtchristen, also mit einem Juden oder Muslim, galt als erschwerender Tatbestand. Selbst bei Masturbation drohten Folter oder gar Erhängen.

Noch Ende des 19. Jahrhunderts wurden sogenannte Sodomiten mit Haftstrafen zwischen einem und fünf Jahren bestraft, zuzüglich Auspeitschen und Zwangsarbeit. Zu Herberts Zeiten wurde man normalerweise "therapiert", indem die Hoden entfernt wurden. Die Psychiater gaben ihren "Patienten" außerdem Brechreiz fördernde Mittel und zeigten ihnen dabei Filme mit nackten Männern. Mein Großvater legte öffentlich Protest ein.

Er war Mitbegründer der Weltliga für Sexualreformen und erwarb sich Verdienste bei der Gründung der Zeitschrift Stimme der sexuellen Minderheit. Er kämpfte gegen brutale Denunzianten, die von Schwulen Geld forderten und drohten, sie ansonsten bei der Polizei anzuzeigen. Die Verfolgung von Homosexuellen durch die Nazis lehnte er ab, doch hielt er sie für zweitrangig, verglichen mit den historischen Erfolgen, die sein Volk erreicht hatte. Als deutschsprachiger Bürger der Tschechoslowakei befand sich Herbert in einer besonders komplizierten Situation: Er war homosexuell, aber er bewunderte Hitler. Den Versailler Vertrag hielt er für ungerecht und die Kriegsreparationen für eine bodenlose Zumutung. Er begrüßte ebenfalls den Anschluss Österreichs ans Deutsche Reich.

Doch nach der Besetzung der Tschechoslowakei durch die Nazis stand er auf der schwarzen Liste und wurde von der Gestapo drangsaliert.

Er wollte sich durch eine Ehe in Sicherheit bringen und suchte sich dafür eine Lesbe in ähnlicher Situation. Sie heirateten im Dezember 1938 im Prager Rathaus. Ein altes Familienfoto von jenem Tag zeigt einen großen, athletisch gebauten Mann, der sich leger auf einen Sockel aus heller Pappe stützt, eine Requisite des Fotoateliers. Dabei schaut er nicht die wunderschöne Braut an, die neben ihm steht, sondern blickt irgendwohin zur Seite und tut so, als sei er gar nicht da. Das Ehepaar Kirchner beschloss, für Nachwuchs zu sorgen, meinen Vater, und so nach außen hin den Anschein einer normalen Familie zu erwecken. Herbert glaubte, dass ihm als Deutschem, wenn er nur vorsichtig genug wäre, definitiv keine Gefahr drohte. Die Gestapo sperrte ihn dann aber trotzdem ein, in die Kleine Festung von Theresienstadt, in eine Baracke für politische Gefangene und Homosexuelle. An der Häftlingskleidung musste er den rosa Winkel tragen. Schließlich deportierten sie ihn nach Auschwitz, wo er direkt nach seiner Ankunft am Morgen des 7 . März 1943 in der Gaskammer getötet wurde.

Von ihm habe ich die blauen Augen und die hohe Stirn geerbt.

3.

Seit ich zum ersten Mal jene vergilbte, ausgeblichene Daguerreotypie meiner Großmutter gesehen habe, die vor ihrer Heirat Helena Prokopová hieß, bin ich überzeugt davon: Wäre ich als Frau auf die Welt gekommen, wäre ich mit derselben außergewöhnlichen Schönheit gesegnet worden.

Helena, eine weithin bekannte Schönheit und fortschrittliche Lesbe, stammte aus einer angesehenen Prager Familie, die vor 150 Jahren aus dem Rheinland nach Böhmen übergesiedelt war. Ihr Vater hatte es bis zum Verwaltungsratsmitglied der Tschechischen Versicherungsanstalt und zum kaiserlichen Kommerzialrat gebracht. Als Helena 1897 geboren wurde, hatte Prag 300 000 Einwohner, auf einen Deutschen kamen vier Tschechen. Sie wuchs in Wohlstand auf, ging auf die deutsche Volksschule an der Ecke Graben und Herrengasse, die von Kindern jüdischer und einiger protestantischer Familien besucht wurde, und sprach Kuchelböhmisch, eine verbreitete Mischung aus Deutsch und Tschechisch.

Die grünäugige Helena mit den markanten Wangenknochen und der bis zur Pubertät jungenhaften Figur wirkte in der Prager Szene schockierend schön. Mit fünfzehn begann sie, ausschließlich Männerkleidung zu tragen, sie hatte einen Pagenschnitt, liebte die Frauen und trank ausschweifend. Sie war leidenschaftliche Autofahrerin und bekam als allererste Pragerin ein Strafmandat wegen Geschwindigkeitsüberschreitung. Außerdem experimentierte sie mit Drogen, insbesondere mit Morphium.

Helena hatte, seit sie sechzehn war, eine eigene Wohnung in der Theyngasse, drei gemütliche und ruhige Zimmer im ersten Stock. Trotz der herrschenden Verhältnisse ging sie offen und auch verdeckt erotische Beziehungen zu Frauen ein. Sie schrieb sich am Institut für Germanistik der Karlsuniversität ein, doch die Vorlesungen besuchte sie nur gelegentlich, und ihr Studium schloss sie auch nicht ab. Sie ging lieber in den Verein deutscher Künstler in Böhmen, der seine Zusammenkünfte in der Regel im Deutschen (später Slawischen) Haus abhielt, wo sie ab und zu samtig, aber angeblich ein wenig falsch Chansons zum Besten gab. Weitere regelmäßige Szene-Veranstaltungen fanden im Tanzklub Batex statt, wo auch Begegnungen auf Inserate hin organisiert wurden, die in der Zeitschrift Stimme der sexuellen Minderheit veröffentlicht wurden. Helena verbrachte so manche Nacht im Café Louvre in der Nationalstraße und in einem Lokal namens Casino. Ihre Schönheit begeisterte, für die Prager Bohème wurde sie zur Muse.

Als leidenschaftliche Touristin absolvierte sie weite Reisen mit dem Auto. Sie besuchte Persien, den Irak, Afrika, die USA, das Baltikum und die Sowjetunion. Mit ihrer Leica machte sie unermüdlich Schnappschüsse von ihren Freundinnen, vor allem aber von sich selbst.

Nach dem Münchener Abkommen war Prag für Helena nicht mehr sicher. Sie fühlte sich bedroht, wollte emigrieren, aber Geschäftemacher boten Visa nur gegen unverschämt hohe Geldbeträge an. Helena musste sogar beim Autofahren umlernen, denn nach dem Einmarsch der Deutschen wurde von Links- auf Rechtsverkehr umgestellt. Einige Tage nach der Ausrufung des Protektorats Böhmen und Mähren wurde sie festgenommen. Dank einer Bestechung durch ihren Vater wurde sie für kurze Zeit wieder aus dem Gefängnis Prag-Pankrác entlassen, doch ihr Pass wurde ihr abgenommen.

Ein Jahr später landete sie wegen "undeutscher Umtriebe" erneut hinter Gittern. In Theresienstadt wurde sie Zeitschriftenredakteurin und nahm an musikalischen Aktivitäten teil. Das genaue Datum ihres Todes im Konzentrationslager Ravensbrück, wohin man sie deportiert hatte, ist nicht bekannt.

Verwandte behaupten, dass ich ihr vor allem durch meinen großen sinnlichen Mund ähnlich sehe. (...)

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