Paulus Hochgatterer: "Wildwasser"
Erzählung
JAKOB(S) SUCHT
Der Siebzehnjährige reißt aus. An einem
heißen Julitag des Jahres 1995
schwingt er sich auf sein Markenfahrrad und fährt der
drückenden
Familienkonstellation davon. Die Mutter und die Schwester unterhalten
sich über
Frauenthemen. Sein Vater, ein erfolgreicher Wildwassersportler, ist vor
zwei Jahren verschwunden, vermutlich in der Enns ertrunken.
Bei seinem Schulkollegen, dem arroganten und selbstsüchtigen
Heinz König, erhält er ein paar Briefchen mit "Bröselchen von der
Spezialmischung" aus dem eigenen Labor.
Alles lässt er hinter sich, nur nicht das "schwarz-silber
gesprenkelte Kevlar-Paddel" seines Vaters. Auf der Fahrt von Wien nach
Südwesten ins Alpenvorland, in die Nähe des Unglücksortes
seines Vaters, beginnt Königs
hausgemachtes "Notfallsgewürz" zu wirken; der Duktus
ändert sich, aus langen zusammenhängenden Erzählpassagen werden
Erinnerungsfetzen, Tagträume
und Schilderungen pubertärer Fantasien.
Bewusstlos bleibt er auf er Sandbank eines Flusses liegen; im
Dämmerschlaf sieht er einen Priester, der sich über ein im Ufersand
vergrabenes Kästchen beugt.
Der Kaplan trägt ihn zu seinem Auto, nimmt ihn im Pfarrhof bei
seiner Mutter und einem behinderten Kind auf, wo er schließlich
herausfindet, dass auch der Priester von einem traumatischen Erlebnis aus seiner Kindheit nicht
loskommen kann. Auch er hat jemanden im Wasser verloren.
Paulus Hochgatterer, schreibender Jugendpsychiater in Wien, stellt auch
in dieser Ich-Erzählung Menschen in Ausnahmesituationen in den
Mittelpunkt des Geschehens, lässt die Leser an den Schlüsselszenen
des Vorlebens seiner
Protagonisten (oder Patienten?) durch lange Reminiszenzen (oder freie
Assoziationen auf
der Couch?) teilhaben.
Eingehende Schilderungen von Paddelerlebnissen, durchsetzt mit
Fachausdrücken aus dem Wassersport, schaffen Authentizität und das
Gefühl, als Leser ganz in der Welt von Jakob und seinem verstorbenen Vater angekommen zu sein.
Ähnlich funktionieren wohl auch die häufig genannten
Markenartikel:
Sie definieren soziale Welten und Zugehörigkeiten, insbesondere
unter Jugendlichen und Sportbegeisterten. Kein Fahrradteil, kein Kleidungsstück,
nicht einmal ein Getränk oder eine Schokolade wird erwähnt, ohne diese
Ware einer Marke zuzuordnen, ohne ihr eine Wertigkeit zuzuschreiben, die auch die
Stellung seines Besitzers in der Welt verdeutlicht.
Im zweiten Teil des Buches, nach der Begegnung mit dem Kaplan, nehmen
die sprachlichen
Bezüge
zur käuflichen Welt ab, die kirchennahe Atmosphäre des
Pfarrhofs offenbart sich in Assoziationen zum Christusmonogramm IHS und
der Nennung religiöser Handlungen.
Als Kapitelüberschriften führen Zitate aus
lateinischen Messtexten schon von
Beginn an in die immaterielle, religiöse Welt ein und
symbolisieren über den
entsprechenden Abschnitt im Ritus der Messen Jakobs Zustand. Kyrie und
Gloria eröffnen,
führen hin zur Huldigung des Vaters, nicht nur des
göttlichen. Mit dem Zitat
vom allmächtigen Vater aus dem Glaubensbekenntnis und dem ans
Fahrrad gebundenen
Kevlar-Paddel nähert sich Jakob im dritten von sechs Kapiteln
dem wasserreichen
südlichen Niederösterreich, ist nicht mehr weit von
der Unglückstelle des
Vaters entfernt. Das Sanctus im Hochgebet und das Agnus Dei, das
Opferlamm Gottes beim
Brotbrechen, begleiten als zentrale Elemente der
katholischen Messe in Hochgatterers Werk Jakobs Drogenrausch und die rettende Begegnung
mit dem Kaplan. Das letzte Kapitel, die unmittelbare und vielleicht
läuternde Konfrontation mit dem Tod, leiten Worte aus der kirchlichen
Begräbnisfeier ein.
Viele Stilmittel stützen die Handlung, lassen eindringlich
Jakobs Herumirren miterleben - und doch ähnelt das Buch Hochgatterers manchmal
eher einer psychoanalytischen Fallstudie, die alles ausblendet, was nicht den
Krankheitsfall erklärt.
Der straffe Aufbau, die strenge Komposition, das penibel geplante Zusammenspiel
von Wortschatz, Zitaten, Handlung und Erzählduktus, sind
bewundernswert, lassen aber sicherlich auch durch die zahlreichen Anspielungen auf die Welt
des Sports und auf die katholischen Riten den spannenden, kurzen, nur 125-seitigen
Roman zeitweise konstruiert wirken.
(Wolfgang Moser; 07/2009)
Paulus
Hochgatterer: "Wildwasser"
dtv, 2009. 125 Seiten.
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Ein weiteres Buch des Autors: Noch ein Buchtipp:
"Katzen, Körper, Krieg der Knöpfe. Eine Poetik der Kindheit"
Paulus Hochgatterer, Schriftsteller und Kinderpsychiater, über seine "Poetik der
Kindheit“ - und die Notwendigkeit zu schreiben.
Seit vielen Jahren teilt Hochgatterer seine Zeit zwischen seiner Tätigkeit in
einem Krankenhaus in Österreich und seiner Arbeit als Schriftsteller. Aus diesen
zwei Seiten seines Lebens entstehen ganz besondere Texte. In den hier erstmals
gesammelten Texten über Literatur erzählt er, was ihn zum Schreiben treibt: die
Lust am Verbotenen, die Identifikation mit seinen Klienten, die Freude am
Abschweifen, die Zwiesprache mit seinen Katzen ... und die Erkenntnis, dass wir
immer von uns selbst sprechen, wenn wir von den Dingen sprechen. (Deuticke)
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Norbert Scheuer: "Überm Rauschen"
Einst sind der Vater und die Brüder gemeinsam fischen gegangen, das Rauschen
des Wehrs hinter der Gaststätte in der Eifel, in der sie gelebt haben, hat die
Kindheit der Brüder mit Ahnungen und Fantasien belebt. Aber der Vater, der beim
Angeln immer auf der Suche nach einem riesigen, mythischen Urfisch war, ist
schon lange tot. Und der ältere Bruder Hermann ist abgeholt worden, musste in
die Klinik, er
hat den Verstand verloren, sein Schicksal ist ungewiss. Der jüngere Bruder, der
Ich-Erzähler, ist zurückgekehrt an den Ort der Kindheit, um der Familie zu
helfen, steht im Fluss, angelt und lässt das Leben des Bruders, sein eigenes,
das der Familie Revue passieren. Die Kindheit am Fluss, die erste Liebe, die
kauzigen Gäste der elterlichen Gastwirtschaft, die Ausbruchsversuche des
Bruders, der Niedergang der Gaststätte, der Fluss und die
Fische,
der Tod der holländischen Gelegenheitsgeliebten des Bruders und die ungeklärte
Frage nach dem eigenen leiblichen Vater - erschöpft und doch überwach versucht
der Erzähler, aus den Erinnerungen und Gesprächen, Ereignissen und
Beobachtungen einen Zusammenhang herzustellen, eine Erklärung zu finden.
Norbert Scheuers Roman "Überm Rauschen" entwickelt mit seiner genauen
und poetischen Sprache einen enormen Sog. Trauer und Schönheit einer ganzen
Welt entstehen durch diese suggestive Geschichte, deren Protagonisten mit ihrer
Suche nach dem großen mythischen Fisch zugleich auf der Suche nach dem Glück
sind. Und das Glück
ist da, im Rauschen, in der wehmütigen Kraft des Erzählens. (C.H. Beck)
zur Rezension ....
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