Peter Henisch: "Der verirrte Messias"
Das
Jerusalem-Syndrom oder Die Wahrheit über Jesus, der sich nie
Christus nannte
Peter Henischs Roman "Der verirrte Messias" spielt zum Teil vor mehr
als zweitausend Jahren. Kann man ihn als historischen Roman lesen? Eher
nicht, denn die Geschichte beginnt in der Gegenwart. "Allerdings
reicht sie weit zurück in die Vergangenheit und
womöglich reicht sie auch irgendwie in die Zukunft",
erklärt die 39-jährige Literaturkritikerin Barbara
einem ehemaligen Studienkollegen, "Eine ziemlich
verrückte Geschichte." Und außerdem "finde
sie biblische Geschichten in der Gegenwartsliteratur ja völlig
jenseitig. In diesem Buch aber - also wie soll ich sagen ... Einige
Szenen, die ich letzthin gelesen habe, sind mir richtig unter die Haut
gegangen." Damit umreißt sie sehr grob den Rahmen
des Werkes des österreichischen Autors Peter Henisch.
Ziemlich verrückt ist die biblische Handlung wahrhaftig.
Spricht doch ebenjene Literaturkritikerin in der Ablugzone des
Flughafens Frankfurt ein ziemlich eigenartiger Typ an. "Nein,
er sah nicht außergewöhnlich aus. Ganz bestimmt
nicht wie eine dieser Ikonen. Auch nicht wie irgendein Fanatiker oder
Psychopath. Allerdings hatte sein Blick etwas Beharrliches."
Er will genau wie Barbara, die einen dringend benötigten
Urlaub bei ihrer Halbschwester Esther anvisiert, nach Israel reisen.
Allerdings mit anderem Bestreben. Mischa Myschkin, wie er sich nennt
(offensichtlich entleiht Henisch nicht ohne Grund den Namen seines
Titelhelden aus Dostojewskis Roman "Der Idiot"), ein aus Russland
stammender, aber in Deutschland lebender
dreißigjähriger Mann, hat eine andere "Mission".
Diese erweist sich indessen im Grunde genommen als genauso aussichtslos
wie die seines literarischen Namensvetters. An Naivität steht
er Dostojewskis
Myschkin in nichts nach, auch wenn Henischs Protagonist
eine überaus ernste Angelegenheit verfolgt: "Es ist
überhaupt die ernsteste Angelegenheit, die du dir vorstellen
kannst", erzählt er Barbara, "Es geht um
die ersten und die letzten Dinge! Es geht um die ganz Heil- und
Unheilsgeschichte! Es geht, ja verdammt noch einmal, um alles oder
nichts!"
Tête-à-tête mit dem Messias
Was ist denn nun so eigenartig an ihrem Flugbegleiter? Dass sein Profil
etwas Schafartiges hat, gewiss nicht. Dass er während der
Lektüre der Bibel mehrfach laut auflacht und bestimmte
Passagen anders deutet und erzählt, als sei er
tatsächlich vor Ort gewesen, verwundert schon mehr. Seine
beruhigenden Worte, als das Flugzeug unversehens in Turbulenzen
gerät: "Sie brauchen keine Angst zu haben, sagte er.
Dieses Flugzeug stürzt nicht ab." - "So? Und warum nicht?" -
"Weil ich an Bord bin. " und die Behauptung, dass er
offensichtlich Jesus von Nazareth sei, oder Jeschua wie er auf
Aramäisch heißt, lassen Barbara
schließlich am Wohlbefinden seines psychischen
Gesundheitszustandes zweifeln.
Ein erstes Verwundern setzt jedoch ein, als er vom Heiligen Geist oder
besser der Energie Gottes zu reden beginnt, kurz darauf die
Flugzeugelektronik verrückt spielt und man zu einem
unfreiwilligen Zwischenstopp in Rom gezwungen wird. Mehr und mehr
gerät Barbara in das Magnetfeld dieses suggestiven,
irritierenden, aber auch imponierenden Menschen, mit einer "Ambivalenz
von anziehenden und abstoßenden Kräften".
Der gemeinsam verbrachte Abend in Rom tut ein Übriges. Die
Zwei kommen sich näher, und Barbara, die für Mischa
seine Maria Magdalena des 21. Jahrhunderts zu sein scheint,
erwägt sogar ein Tête-à-tête in
dessen Hotelzimmer. Als sie auf das Bett zusteuert, traut sie ihren
Augen nicht: Sie bemerkt Wundmale an Händen und
Füßen des jungen Mannes, der da vor ihr nackt unter
dem Bettlaken liegt - Stigmata, die bluten. Jetzt bekommt sie es
endgültig mit der Angst zu tun und flüchtet.
Doch Mischa geht ihr nicht aus dem Kopf, zusätzlich
genährt durch einen ausführlichen Brief von ihm, den
sie nach ihrem Urlaub im Postkasten findet und dem noch viele weitere
folgen sollen. Hat sie sich vor wenigen Wochen geweigert, Mischa auf
seiner Reise zu den Wirkungsstätten von "Jeschua" zu
begleiten, wird sie nun umso stärker in dessen Geschichte
gezogen. Langsam kristallisieren sich bei Barbara tiefere
Gefühle zu dem vermeintlichen Messias heraus, der ihr fortan
ausführlich seinen neuerlichen Weg bis zur Erlösung
schildert. Nur diese scheint offensichtlich gar nicht stattgefunden zu
haben. "Die Apokalypse, ja, das war zu befürchten.
Obwohl es nicht so aussah, als ob man ihn dazu noch brauchte. (...) Ich
bin Jesus, sagte er.
Aber das nützt auch nichts."
Mysteriöser Jesus
Nicht nur Barbara gerät in die Aura des vermutlichen
Erlösers, sondern auch der Leser taucht unweigerlich in das
von Peter Henisch großartig bis zur letzten Seite
aufrechterhaltene Spannungsfeld ein. Mit unerwarteter Leichtigkeit,
vermischt mit einem kühnen Schuss Ironie, entfaltet sich der
Roman auf gleich drei Ebenen, die durch einen großen Bogen
beherzt überspannt sind. Dem Autor gelingt ein famoser
Brückenschlag zwischen den Zeiten. Da ist zum Einen die sich
entwickelnde Liebesgeschichte zwischen Mischa und Barbara, zum Anderen
das hochbrisante politische
Thema der nahöstlichen Situation:
des krisengeschüttelten Israels und seines Nachbarn
Palästina, von dem Mischa in seinen Briefen auf der Suche nach
seinen Wurzeln berichtet und das sich zunehmend zu einem Alptraum
entwickelt. Zusätzliches Augenmerk liegt ohne Zweifel auf dem
literarisch-ironischen Umgang mit den
Evangelientexten.
"Die drei Ebenen des Buches sind für mich
gleichwertig", erklärte der Autor in einem
Interview. "Das ist ja auch das Schöne an einer
Komposition, dass man sozusagen drei Themen hat, die man dann auf
musikalische Weise miteinander verbindet und einander kontrapunktisch
gegenüber stellt." Peter Henisch gelingt dies bar
jedweder blasphemischer Diffamierung. Auch wenn der mysteriöse
Jesus am Ende des Romans ernsthaft überlegt, welcher Religion
er wirklich angehören möchte. "Entweder
vorwärts zum Islam oder zurück zum Judentum. Dem
Christentum
ist allem Anschein nach der Boden unter den
Füßen weggezogen." Dazu noch einmal der
Autor: "Ich habe einerseits die Geschichte sehr ernst
genommen, andererseits ihre ironischen Aspekte durchaus nicht
vergessen. Für mich ist der Umgang mit den Evangelientexten
und der Umgang mit der Geschichte, die mir dazu eingefallen ist, ein
Spiel mit Möglichkeiten. Dieses Spiel mit
Möglichkeiten wäre in früheren Zeiten
wahrscheinlich als häretisch eingestuft worden - die Zeiten
sind Gott-sei-Dank vorbei. Ich will Niemandes religiöse
Gefühle verletzen, aber bei mir sehen die Dinge etwas anders
aus."
Mit dem stark typologischen Roman "Der verirrte Messias" ist Peter
Henisch ein außerordentlich dichter,
äußerst origineller Text gelungen, der dem Leser
einen "Messias" vorstellt, der kritisch und vielleicht auch ein wenig
enttäuscht versucht, die letzten zweitausend Jahre zu
verstehen. Hervorragend recherchiert und spannend bis zur letzten Seite
changiert er zwischen Ernst, Ironie und Sarkasmus, zwischen politischer
und kultureller Kritik.
(Heike Geilen; 08/2009)
Peter
Henisch: "Der verirrte Messias"
Gebundene Ausgabe:
Deuticke im Zsolnay Verlag, 2009. 400 Seiten.
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Taschenbuchausgabe:
dtv, 2012.
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