Tymofiy Havryliv: "Wo ist dein Haus, Odysseus?"
Quer durch das Land, durch das offene Meer, durch
die Finsternis der Tage und den Schimmer der Nächte geht die
Reise des heutigen
Ulysses. Quer durch die Zeit, durch Jahrhunderte, durch die
ältere und jüngere
Vergangenheit, durch das literarische und kulturelle Welterbe und
irgendwie
quer durch das ganze eigene Leben... chaotisch, abenteuerlich,
melancholisch. „Wo ist dein Haus,
Odysseus?“ fragt
Tymofiy Havryliv seine einfallsreiche, mit allen Wassern gewaschene
Romanfigur
und stellt somit eine Frage an eine ganze Generation der
‚Heimatlosen‘, die in
der Welt in alle Richtungen verstreuten Menschen, die irgendwann ihre
Heimat
verlassen und sich in dem neuen ‚Zuhause‘ ein
‚Daheim‘ einrichten müssten. Kann
sich der Mensch die Heimat wählen, sie imitieren, wo sie nicht
ist?
Kompromisslos und mit Leidenschaft geht der moderne Ulysses genau dieser Frage nach,
schaut hinter jede
verschlossene Tür, lüftet jedes Geheimnis. Von der
These „Der Mensch ist doch frei,
sich die Heimat zu wählen“ ausgehend,
begibt
er sich auf die Suche, verlässt seine werte Ukraine und schaut
nach Europa:
Paris, Berlin, Wien. In seinem Bericht wimmelt es von
Bahnhöfen und Wartesälen,
Wohnungen und Parkanlagen, Ämtern und Tankstellen,
Geschäften und Denkmälern,
Kreuzungen und Haltestellen, Straßen und Brücken. Es
wird mal obdachlos gelebt,
mal als Schriftsteller, mal hinter Gittern, als Verbrecher. Gestalten
aus der
Vergangenheit, aus der früheren Heimat tauchen mal hier, mal
dort auf: eine Bauchtänzerin
im Nachtclub, ein Emu im Zoo – die neue Heimat verformt auch
die alten Freunde,
nichts bleibt so, wie es mal war. Fließt Wasser,
fließt Zeit. „Und sogar
die Dinge, von denen man nicht
meinen würde, daß sie fließen“,
- wird weitergedacht. Das gilt wohl auch
für das innere Wasser, aus dem die Menschen bestehen
– es fließt und somit
fließt auch der Mensch – ein Fluss, ein Bach. Mal
sind es Steine auf dem Weg,
mal eine scharfe Biegung, jedoch ist es seine Bestimmung, zu
fließen, bis
dieser ‚Fluss‘ in einen See oder einen Ozean
mündet.
Das Wichtigste dabei ist die Wahl der richtigen Richtung. „Solange wir keine Richtung wählen, verharren wir in einem Punkt.“ Die gewählte Richtung eröffnet die Perspektive. Ein kurzer Blick zurück, in die Vergangenheit und an die eigenen Fähigkeiten schafft die notwendige Retrospektive – nun kommt alles darauf an, wachsam zu sein und zur richtigen Zeit die richtige „Papyrusrolle“ des Lebens und Werks aufzurollen. Es gibt keine Garantien, jedoch eine Menge Zweifel für denjenigen, der in der Retrospektive, um eine Prospektive und schließlich eine Perspektive für sich zu schaffen, das Heimatrecht wählt, sein Papyrus entrollt und nun gnadenlos in einem Strom in eine unbekannte Richtung fließt. Doch wenn der Mensch das kann, warum nicht die Blume? „Warum ist die Blume nicht frei, sich eine Heimat zu wählen? Warum sprießt sie anderswo nicht? Warum sprießt sie anderswo nur, wenn man Treibhausbedingungen schafft, was nichts anderes heißt, als Nachahmung von Heimat?“ Und die Melonen, die sich nur im Süden ausbreiten. So einfach, wie es scheint, ist das mit der schicksalhaften Heimatwahl nicht. Der heutige Odysseus ist schließlich kein Nomade, der in der Morgendämmerung seinen Schlafsack einrollt und am Abend woanders sein Zelt aufbaut! Und so entstehen tiefe Brüche in der felsenfesten Überzeugung: wer weiß denn schon, wo es langgeht, welcher Faden wo hingehört, wo man selbst hingehört: „Man kann Kartoffeln nicht dort anpflanzen, wo Reis wächst, und Weizen neben Kakao. Man kann die Heimat nicht dort imitieren, wo sie nicht ist. Wenn Sie anfangen, sie dort zu suchen, wo sie nicht ist, kann Ihnen kein Freud und kein Adler helfen. Denn man kann sich nicht gleichzeitig in zwei Richtungen, zudem entgegengesetzte, bewegen.“ Und doch geht die Reise immer und immer weiter, der Fluss hört nicht auf zu fließen. Die unentwegte Fortbewegung, die Suche nach der Heimat, die Suche nach ihr, der ewigen Geliebten, seiner Penelope, von der ein Fotoalbum zu machen, ein Drehbuch zu schreiben und ein Film zu drehen ist, füllen die Tage des schwierigen Wegs. Und wenn alle Stricke reisen, bleibt viel Raum für gemischte Gefühle und verwirrte Gedanken: ob es sie noch überhaupt gibt, diese Ukraine? Ob sie tatsächlich existiert? Ist sie dort, wo der rastlose Held noch kürzlich stand und von wo aus er sein „Papyrus“ entrollt hat oder dort, wo er momentan ist? Ist sie bloß eine Erfindung, eine Phantasie, eine Sinnestäuschung?
Äußerst aufmerksam auf jedem Schritt, mit Liebe zum Detail und zur Genauigkeit begleitet Tymofiy Havryliv mühsam den rastlosen Ulysses auf einer Reise, die zugleich – durch die aufgestellte mythologische Referenz – eine jahrhundertealte Irrfahrt ist. Man setzt sich in einen Zug, der von einem modernen Bahnhof abfährt, allmählich überkommt einen die sanfte Müdigkeit, als man plötzlich, wie durch ein Loch in der Zeit aus der Gegenwart gerissen wird, in ein kleines, mit den Riesenwellen kämpfendes Schiff geworfen, mitten ins offene Meer, wo man weiß, dass sich dort der Poseidon ärgert. Die Zeiten vermischen sich, der Raum dehnt sich aus, die fest miteinander verknoteten Fäden werden immer schwieriger zu entwirren. Jahrhunderte liegen zwischen den beiden odysseischen Reisen, doch diese Zeit liegt nicht im Vakuum, sie füllt den Erzählraum mit Geschichten und Ereignissen, mit Formen und Materien, die geschickt im Roman versteckt und in Kombinationen immer aufs neue zu entdecken sind. Eine dramaturgisch harmonisch durchdachte Komposition, faszinierende Sprache, in der die Geschichte erzählt und übertragen ist, schaffen bei Havryliv eine fabelhafte Metapher der heutigen Zeit – einen Anker für die, die sich auf dem Weg befinden sowie für alle, die angekommen sind.
(Anna Wilhelm; 10/2009)
Tymofiy
Havryliv: "Wo ist dein Haus,
Odysseus?"
(Originaltitel "De tvij dim, Odisseju?")
Aus dem Ukrainischen von Harald Fleischmann.
Ammann Verlag, 2009. 298 Seiten.
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Tymofiy
Havryliv wurde 1971 in
Ivano-Frankivs'k (Ukraine)
geboren und lebt heute in Lviv. Er übersetzte u.A.
Georg
Trakl, Joseph
Roth,
Thomas
Bernhard und Paul Celan ins Ukrainische.
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Dieser Reiseführer entführt mit zahlreichen
Stadtspaziergängen in Geschichte
und Gegenwart dieser beeindruckenden Stadt mit ihren
unzähligen Sehenswürdigkeiten
und Architekturdenkmälern. Hinweise zu Museen, Theatern,
Restaurants und Hotels
helfen bei der Reisevorbereitung. (Trescher Verlag)
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Timothy Snyder: "Der
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Leben des Wilhelm von Habsburg"
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(Zsolnay)
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