Jaroslav Hašek: "Die schönsten Geschichten"
Schlitzohrige
Appetithappen
"Er brachte die Chuzpe, den anarchischen Witz und die
phantasievolle Subversion in die Literatur der Moderne"
(Klappentext) - neben dem unvollendet gebliebenen Roman "Schwejk"
hinterließ er mehr als tausend Kurzgeschichten und
Feuilletons.
Hašek (1883-1923) liebt das Skurrile und hasst das
Spießertum - überdies verfügt er
über
genügend Selbstironie, indem er einmal in einem
selbstverfassten
Vorwort, in welchem er die "geschätzten Leser"
bittet, "nichts auf die verschiedenen Kritiken zu geben, die
nicht mit dem übereinstimmen, was ich hier im voraus behauptet
habe." Und natürlich lobt er sich wegen "der
edlen Tendenz, des brillanten Stils und der sprachlichen
Schönheit." Er wolle den "breitesten
Bevölkerungsschichten Unterhaltung und Belehrung vermitteln"
und wünscht sich sogar, dass sein Werk "in die
Hände aller Lehrer gelangt und dass es zu einem Erziehungsbuch
für unsere junge Generation wird." Verschmitzter
lässt sich Untertreibung kaum formulieren - wobei er in einer
Geschichte verrät: "Als junger Gymnasiast war ich
sehr wissbegierig, was mir später zum Glück verging."
Und er erzählt, es sei "der schönste Tag in
meinem Leben"
gewesen, als er im Dezember 1897 mit einer Sammlung Mineralien in den
Taschen verhaftet wurde und standrechtlich erschossen werden sollte,
weil man ihm unterstellte, mit diesen Steinen auf die Polizisten werfen
zu wollen.
Äußerst amüsant liest sich die "Geschichte
eines
anständigen Mannes", in welcher der Herr Havlik peinlichst
darauf
achtet, dass immer seine Hose zugeknöpft ist, damit ja niemand
etwas auszusetzen fände, was ihn "aus der
anständigen Gesellschaft ausschließen"
würde. Wohingegen im Text "Das Feuilleton" der
Erzähler, als
er höflich einen Viehhändler darauf aufmerksam macht,
dass
diesem hinten die Hose geplatzt sei, angeschnauzt wird: "Was
geht Sie das an?"
Auch Anstand und Sittlichkeit definiert sich eben nach Bedarf - und
dieses Phänomen wird bei Hašek ausgekostet bis in
die
kleinbürgerlichste Absurdität. Die Grenzen zwischen
dem, was
sich schickt, und dem, was nervt, sind da sehr feinmaschig gezogen. Bei
Hašek fühlt man sich unwillkürlich an
Dürrenmatts
berühmt-berüchtigten Ausspruch erinnert: "Eine
Geschichte ist dann zu Ende gedacht, wenn sie ihre
schlimmstmögliche
Wendung genommen hat."
Während bei
Dürrenmatt
das planmäßige Vorgehen des
Menschen mit dem Zufall kollidiert, treffen bei Hašek
Naivität und Borniertheit aufeinander. Ein Katzenbesitzer
unterliegt aufgrund eines veterinärmedizinischen Gutachtens
der
Todesstrafe, ein Redakteur landet in einer Blindenanstalt, weil
offensichtlich eine Dame ihre Drohung, ihm die Augen auszukratzen,
wahrgemacht hat - manch einer landet im
Irrenhaus,
und einer dreht gar den Gashahn auf. Man ist versucht, diverse
philosophische Sentenzen zu vermengen und zu vermuten: bei
Hašek
ist das Leben eine fröhliche Krankheit zum Tode.
All die Qualitäten dieser tödlichen Harmlosigkeit
kulminieren
in der Geschichte "Die Ausrottung der Praktikanten", in welcher der
Reihe nach vier Praktikanten daran scheitern, auf Befehl ein passendes
Glückwunschgedicht für ihren Chef zu verfassen und
sich
folgerichtig in ihrer Verzweiflung das Leben nehmen. Der
fünfte
Praktikant verweigert sich - und landet im Irrenhaus. Hier
drängt
sich freilich die banale Frage auf, ob uns Hašek nicht
letztendlich vermitteln möchte, dass eigentlich die ganze Welt
ein
Irrenhaus sei. Und da man schon lange den Verdacht hegen
musste, dass
all die Geschichten ebenso Episoden aus dem Roman vom "Braven Soldaten
Schwejk" sein könnten, begegnen wir Schweijk, wie er
pfeiferauchend ein Arsenal in die Luft sprengt - natürlich
unbeabsichtigt - und als Einziger überlebt und sogar
befördert wird. Auch die Geschichte "Mein Geschäft
mit
Hunden" liest sich wie eine Keimzelle des besagten Romans. Hier
schmückt ein Hundeverkäuferassistent einen
Weihnachtsbaum mit
jungen Hunden - da muss man allerdings auch sagen: banaler ginge eine
Pointe kaum noch.
Da er Bescheidenheit nicht mit Zimperlichkeit und
Sentimentalität
verwechseln möchte, gönnt uns der Autor den
hymnischen Text
"Der größte tschechische Schriftsteller Jaroslav
Hašek", in dem er sich zu der Aussage steigert: "In
der Geschichte der ganzen Menschheit gibt es nur ein allseitig
vollkommenes Wesen, und das bin ich."
Gewissermaßen den Knalleffekt setzt dazu die Geschichte "Wie
ich
dem Autor meines Nachrufs begegnete" - mit dem fährt er
nämlich auf einen Friedhof und lässt ihn als
Ruhestörer
auf die Polizeiwache bringen. Eine handfeste Satire
schließlich
liefert Hasek mit dem Text "Unter Bibliophilen", hier qualifiziert sich
der Erzähler für den Besuch einer erlauchten Runde
von
Literaturkennern, indem er behauptet, er habe zu Hause die persische
Originalausgabe der Gedichte von Hafis "in Menschenhaut
gebunden".
Als er allerdings behauptet, Robinson Crusoe sei ein italienischer
Dichter, wirft man ihn entrüstet durch das Parterrefenster auf
die
Straße. Das hätte Hašek
womöglich auch im
wirklichen Leben passieren können, agierte er doch als
Bohemien
und "anarchistischer Witzbold" nach dem Urteil so
manches Kritikers.
Während nämlich im westlichen Europa die Kritiker,
unter ihnen auch Tucholsky,
begeistert von den ersten Folgen des "Schwejk" (der zunächst
in
Fortsetzungen erschien) waren, verunglimpfte die tschechische Kritik
das Werk als "unliterarische Schweinerei". Dieser "anarchische,
lachende Bruder Kafkas" (Viktor Böll in seinem
Nachwort) bleibt uns biografisch größtenteils ein "der
Mutmaßung anheimgegebenes Rätsel"
(vgl. Viktor Böll, ebd.), wobei die hier vorliegenden
schlitzohrigen Appetithappen durchaus Lust auf mehr aufkommen lassen.
(KS; 04/2009)
Jaroslav
Hašek: "Die schönsten
Geschichten"
Herausgeber: Viktor Böll. Nachwort: Viktor Böll.
Aufbau-Verlag, 2009. 300 Seiten.
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Jaroslav
Hašek, der
Schöpfer des braven Soldaten Schwejk, war wie sein
weltberühmter Held ein
Prager Original. Er durchwanderte von 1903 bis 1907 ganz Mitteleuropa.
Wie
Schwejk handelte er eine Zeitlang mit Hunden und war Soldat der k.u.k.
Armee.
1925, an der Ostfront, desertierte er und wurde des Hochverrats
angeklagt. Er
war Kommissar in der Roten Armee. Viermal glaubte man, er sei tot. Er
gründete
die "Partei des gemäßigten Fortschritts in den
Grenzen des gesetzmäßig
Erlaubten" und hielt über tausend Wählerversammlungen
ab. Und er war dafür
bekannt, dass er gern redete und sehr viel trank.
Sein braver Soldat
Schwejk
wurde zum Sinnbild des Widerstandes gegen jegliche Obrigkeit.
Weitere Buchtipps:
Jaroslav Hašek: "Die Abenteuer des braven Soldaten Schwejk"
Durch amtsärztliches Attest als blöde ausgewiesen,
wird Schwejk
im
Ersten
Weltkrieg dem Oberleutnant Lukasch als Bursche zugeteilt.
Sein Pflichtbewusstsein
und sein Befehlsgehorsam übertreffen alle Erwartungen. Schwejk
erfüllt seine
Aufträge über Gebühr und führt
damit ihre Sinnhaftigkeit auf eine
unwiderlegbare Weise ad absurdum.
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"Das
Hašek-Lesebuch"
Herausgegeben von Daniel Kampa, Daniel Keel
Jaroslav Hašek ist
vor allem als Schöpfer des unsterblichen Schwejk bekannt, er
hat aber auch über
1000 Geschichten und Feuilletons geschrieben, die seinem
berühmten Roman an
Witz und Bissigkeit in nichts nachstehen. Denn auch wenn
Hašeks Figuren nicht Schwejk heißen, gehen sie
ihren Mitmenschen doch aufs Schönste mit ihren
Skurrilitäten und Unzulänglichkeiten
auf die Nerven und schlagen sich immer in unverwechselbar schwejkscher
Manier
durchs Leben. Dieses Lesebuch versammelt neben den besten Geschichten
von
Jaroslav Hašek die
schönsten Kapitel aus dem weltberühmten
"Schwejk"-Roman. (Diogenes)
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Franz
Loquai (Hrsg.): "Im
Licht der Goldenen Stadt. Ein Prag-Lesebuch"
Mit Texten von Milan Kundera, Ota Filip, Bohumil Hrabal, Jaroslav
Hašek, Franz
Kafka u.v.A.
Ein idealer Begleiter für tatsächliche und erdachte
Reisen in die Goldene
Stadt.
Prag
ist
beliebter denn je. Die Goldene Stadt an der Moldau zieht mehr Besucher
an als
Venedig oder Florenz. Das Prag-Lesebuch lädt ein zu einer
literarischen Reise
durch die Stadt der 100 Türme. Der Band versammelt
herzerwärmende und
nachdenkliche, spannende und schelmische Erzählungen
klassischer wie moderner
Autoren von
Milan Kundera bis
Bohumil
Hrabal, von Jaroslav Hašek bis
zu
Franz Kafka. (Goldmann)
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Vera
Schneider: "Wachposten
und Grenzgänger. Deutschsprachige Autoren in Prag und die
öffentliche
Herstellung nationaler Identität"
Zwei gegenläufigen Tendenzen prägen das
multiethnische Prag in den letzten
Jahrzehnten der Habsburgermonarchie: Die räumliche
Nähe der nationalen Gruppen
und ihre zunehmende lebenspraktische Verflechtung wird konterkariert
von einem
immer stärker werdenden Bedürfnis nach Abgrenzung.
Der kommunalpolitischen
Dominanz der tschechischen Mehrheitsbevölkerung sucht man auf
deutscher Seite
mit der Stärkung jener kollektiven Vorstellung von
Gemeinschaft zu begegnen,
die den Kern nationaler Identität bildet. Eine wichtige Rolle
spielt dabei die
Tagespresse, insbesondere die Deutsche Zeitung Bohemia.
"Wachposten und Grenzgänger" betrachtet zunächst die
dort
etablierten rhetorischen Strategien und Meinungsroutinen, die den
Kommunikationsalltag der Stadt begleiten. Die Ergebnisse dieser
Lektüregänge
werden mit Prosatexten
von
Rainer Maria Rilke, Karl Hans Strobl,
Max Brod, Ernst
Weiß, Egon Erwin
Kisch und Gustav
Meyrink konfrontiert, die auf ihre Weise ebenfalls Aufschluss
über das
Neben-, Mit- und Gegeneinander von Deutschen und Tschechen geben. In
diesem
Kontext beweist die Literatur ihren diskursiven Eigensinn: Sie kann die
Grenzen
des öffentlich Sagbaren nicht nur beglaubigen, sondern auch in
Frage stellen. (Königshausen
& Neumann)
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Wolfgang
Dömling: "Prag. Ein Reisebegleiter"
Mit Stadtplänen und farbigen Fotografien.
Prag - die goldene Stadt an der Moldau. Seit je wurde hier Geschichte
geschrieben. Sei es der Prager Fenstersturz als Auslöser des
Dreißigjährigen
Krieges, oder die bewegende Rede Genschers im September 1989,
die Tausenden
DDR-Bürgern die Ausreise in die BRD ermöglichte. Doch
in den Gassen entlang
des Altstädter Rings gibt es noch einiges mehr zu entdecken
als Prager Burg und
Karlsbrücke. Wolfgang Dömling führt den
Leser auf ausgewählten Spaziergängen
vorbei an prachtvollen Palais und Kirchen zu beschaulichen und
denkwürdigen
Orten, stets auf den Spuren großer Autoren wie Franz Kafka,
Bohumil Hrabal,
Rainer Maria Rilke u. v. A. Mit Stadtplanauszügen und
Serviceteil. (Insel)
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