Anna Katharina Hahn: "Kürzere Tage"


Ein menschliches Mobile

Wer bin ich eigentlich? Was mache ich aus meinem Leben?
Nicht erfülltes Glückssoll, zerbrechliche Harmonie sowie identifizierende Milieuzugehörigkeiten sind die zentralen Themen des vorliegenden Romans. Anna Katharina Hahn lässt in ihrem Roman "Kürzere Tage" Figuren an unsichtbaren Fäden pendelnd umeinander kreisen, jedoch ständig in der Gefahr, dass sie sich ineinander zu verhaken.

Da ist zum einen Judith - um die Vierzig -, die ehemalige Kunststudentin, die sich früher wegen ihrer permanenten Angst, ihre gesteckten Ziele nicht zu schaffen, mit Psychopharmaka vollpumpte und einem machohaften Medizinstudenten sexuell hörig war, bis sie eines Tages den "Hackstraßenmist" hinter sich lässt und Knall auf Fall bei dem soliden "Langweiler" Klaus einzieht. Mit ihm ist Sex zwar "wie Schwimmen am Warmbadetag", ein "wenig aufregendes Geplätscher", aber zumindest verspricht er ihr, inzwischen Mutter von zwei Söhnen, Sicherheit und Geborgenheit und eine schicke Altbauwohnung in einer Lieblingsadresse des Stuttgarter Bildungsbürgertums, der noblen Constantinstraße.

Der Vorzeigefamilie gegenüber wohnt die fünf Jahre jüngere Leonie - von ihrem Mann zärtlich "Business-Babe" genannt -, mit ihren beiden kleinen Töchtern. Auch dieses Paar arbeitetet hart an der Zugehörigkeit zu einer besseren Schicht. Ehemann Simon, Sohn einer alleinerziehenden Mutter aus der "Schwabenbronx" Heslach, hat sich mittlerweile zum Vertriebsleiter einer Firma für Autodichtungen hocharbeitet. Doch was nutzt die viel zu große Wohnung ("Simon geht strategisch vor. Er will die Stationen seines Erfolges auf dem Stadtplan sichtbar machen"), wenn man sich nur noch spätabends sieht und Leonie, die als studierte Romanistin ebenfalls in einer Bank arbeitet, ständig das Rabenmuttergewissen plagt?

Perfektionismus und ein unterschwelliger Zwang, immer alles richtig machen zu müssen, treibt beide Frauen - jede auf ihre Art - um. Schmerz, Verfall und Tod gehören dabei nicht zum Wortschatz. Entweder man schaltet bei Berichten aus Krankenhäusern und Altenheimen sofort das Fernsehprogramm um (Leonie) oder wartet, bis die alte Frau aus dem Haus, vor der man sich immer ekelt, weil sie nach "Schweiß und schmutziger Unterwäsche" riecht, das Haus verlassen hat (Judith).

Auf jeden Fall gibt man sich multikulturell, indem man mit den Kindern auf den linksalternativen Kinderbauernhof geht, wo auch der Nachwuchs aus der verrufenen "Olgaeck"-Siedlung mitspielen darf, oder geht beim türkischen Feinkosthändler einkaufen, der allerdings mit seiner Baskenmütze eher "wie ein Franzose aus einem Chanson von Brel" wirkt. Schlimmer sind da schon diese nichtsnutzigen Jugendlichen um Hasan und Marco, die an den Ecken herumstehen, die Leute vollpöbeln und den Ärger vorprogrammiert haben.

Das hört sich alles ziemlich klischeehaft an, klingt eher nach Alltagsmelodram, doch Anna Katharina Hahn setzt viel tiefer und gründlicher ein. Ihr ist eine präzise beobachtete Milieustudie gelungen. Professionell breitet sie den "mittelständischen Seelenhaushalt" der Romanfiguren vor dem Leser aus. Hervorhebenswert sind vor allem die großartigen, messerscharfen Charakterzeichnungen. In wechselnden Kapiteln seziert die Autorin ihre Protagonisten, einmal in auktorialer Erzählperspektive, dann wieder in einem inneren Monolog: eine stilistische und sprachliche Finesse, untermalt durch jede Menge Lokalkolorit.
Dass sie am kulminierenden Ende alles offen lässt und keine vorgefertigte Lösung anbietet, ist ein großer Pluspunkt des großartigen Romans.

Fazit:
Jeder sucht sein eigenes Glück, manchmal begegnet man sich dabei und versucht die jeweiligen Glücksvorstellungen aufeinander abzustimmen - Scheitern meist inbegriffen, denn Lebensentwürfe offenbaren vielfach eine allzu diffizile Fragilität, und die Idylle kommt oft exemplarisch daher. Ein wunderbares Buch mit vielen feinen, sarkastischen Zwischentönen aus Hass und Selbsttäuschung und jeder Menge offengelegter Doppelmoral der neudeutschen Realität.

(Heike Geilen; 10/2009)


Anna Katharina Hahn: "Kürzere Tage"
Suhrkamp, 2009. 223 Seiten.
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