Carla Haas: "Der Zweifel"
Roman
einer scheiternden Ehe
Ella ist auf dem Weg nach Helsinki, wo ihr Mann Yannick, ein
erfolgreicher Bakteriologe, der eine Bahn brechende wissenschaftliche
Entdeckung gemacht hat, einen Kongress besucht. Im Grunde hat sie ihn
während ihrer mehrjährigen Ehe fast nur bei solchen
Gelegenheiten sehen können, denn zu Hause trifft sie ihn stets
nur flüchtig an. Doch Ella hat diese Art der
Eheführung, die ihr theoretisch ja auch viel Freiheit
für ihre eigene Entwicklung lässt, nie infrage
gestellt, zumal sie im Grunde auch die finanziellen
Möglichkeiten, die Yannicks Erfolg ihr bietet, zu
schätzen weiß.
Allerdings fallen ihr aufgrund dieser eher seltenen Treffen mit ihrem
Mann auch die Veränderungen an ihm deutlich auf, das massiv
ergrauende Haar, der sich immer mehr rundende Bauch, erschlaffendes
Fleisch.
Und die Reise nach Helsinki tritt sie gewissermaßen mit
schwerem Gepäck an, ist ihr doch in der Nacht zuvor ein Mann
begegnet, der sie bis in ihr Innerstes berührt hat, mit dem es
zwar nicht - noch nicht? - zum Äußersten kam, der
sie jedoch mit unendlicher Sehnsucht erfüllt hat:
Luis.
Und so ekelt sie sich in Helsinki zunächst fast vor Yannick.
Während er seinen beruflichen Verpflichtungen nachkommt,
grübelt sie über ihre Ehe nach, wie Yannick und sie
einander fanden, als Yannick noch mit einer anderen Frau verheiratet
war, über den destruktiven Einfluss von Yannicks Mutter auf
ihre Ehe, und über die zerstörerische Beziehung, die
sie vor Yannick mit einem anderen Mann hatte. Und ständig aufs
Neue ist Luis in ihren Gedanken, das, was vielleicht sein oder werden
könnte und doch nicht darf. Eigentlich.
Eine Liebesnacht im Hotel mit Yannick bringt sie ihm wieder unerwartet
nahe, doch bei ihrer Rückkehr zeigt sich, dass diese
Wiederannäherung auf tönernen
Füßen steht.
Ella hat sich angepasst, arrangiert, schon in ihrer früheren
Beziehung, bis ihr damaliger Verlobter permanent und brutal Grenzen
überschritt. Yannick fordert Ella bis zur Grenze, ohne diese
zu übertreten, und es bedarf Luis', eines sehr gut
aussehenden, feinsinnigen, charmanten Mannes, um Ella dazu zu bringen,
ihre eigenartige Ehe zu überdenken.
Geschickt arbeitet die Autorin mit Rückblenden und schafft
dabei eine eigenartige Stimmung, weiß der Leser doch schon
von Anfang an, wohin die "Geschichte" mit Luis führen wird,
und dennoch kommt es zu einigen überraschenden Wendungen.
Die Charaktere sind sehr plastisch gezeichnet, erhalten im Verlauf des
Romans aber sämtlich zahlreiche zusätzliche Facetten,
die das Bild, das der Leser sich von ihnen macht, immer wieder
verändern. Nicht zuletzt betrifft dies auch Ella als
Protagonistin, die zunächst stärker erscheint, als
sie tatsächlich ist.
Eine Rahmenhandlung gibt es kaum, im Hotel passiert im Grunde nicht
viel, größtenteils bewegt sich der Roman innerhalb
von Ellas Erinnerungen und ihren daraus resultierenden
Überlegungen. Doch diese rudimentäre Rahmenhandlung
fängt die gut konstruierten Spannungsbögen immer
wieder perfekt auf.
Etwas irritierend wirken einige der vielen Perspektivwechsel, die
gleichsam zu einem Verrennen in das Innenleben von eher
nebensächlichen Charakteren wie Yannicks früherer
Frau führen. Da werden direkt aus ihrer, die doch gar nicht
unmittelbar auftreten, Perspektive Details erörtert, die in
dieser Form eigentlich nur den beiden Protagonisten zukämen.
Weniger wäre hier mehr gewesen. Dies ist jedoch der einzige
gravierende Schwachpunkt des Romans.
Ellas Konflikt, die Schwierigkeit, einen Schlussstrich unter eine
verfahrene Lebenssituation zu ziehen, die Versuche beider
Protagonisten, sich und einander eine gemeinsame Zukunft, eine
Änderungsabsicht zu suggerieren, die große
Versuchung durch die Begegnung mit einem Menschen, der all das
verkörpert, das dem aktuellen Partner fehlt, wirkt sehr
menschlich. Je mehr der Leser in ihre Geschichte eintaucht, desto
besser versteht er sie, wenn auch vielleicht nicht ihr krampfhaftes
Durchhalten in einer Ehe, die im Grunde eine Farce ist.
Das Ende bleibt offen oder doch wieder nicht, bildet der Anfang des
Romans doch eigentlich das Ende gemäß dem
geschickten Konzept der Autorin. Ein interessantes, spannendes,
einfühlsames Werk mit komplexen Charakteren, das tief an das
Innerste menschlichen Seins und zwischenmenschlicher
Beziehungen
rührt.
(Regina Károlyi; 08/2009)
Carla
Haas: "Der Zweifel"
Ammann Verlag, 2009. 234 Seiten.
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Carla Haas, 1972 in Bern geboren, studierte in Lausanne, Leipzig und Bern, bevor sie 1998 ihre eigene Gruppe "Le Théâtre L." gründete, mit der sie Texte der klassischen Moderne adaptiert und inszeniert. Carla Haas übersetzt ihre Werke selbst ins Französische. "Der Zweifel" ist ihr erster Roman.
Leseprobe:
"Luis, ich sollte schweigen und nichts sagen", schreibt Ella. "Ich
habe vor dem Mißverständnis Angst, das den Worten
folgt. Doch mir bleiben nur
Worte, um auszudrücken, was ich seit der Nacht
herunterzuschlucken versuche, in
der Wellen unsere Füße umschmeichelten. Die ganze
Nacht habe ich geschwiegen.
Seit der einsetzenden Morgendämmerung frage ich mich warum.
Mein Körper sehnte
sich danach, Ihnen für einen Augenblick nahe zu sein. Den Duft
zu riechen, der
Sie einhüllt. Was ich jetzt sage, ist nicht wahr. Es geht nie
nur um einen
Augenblick, sondern immer um alles. Um den Körper, die Seele
und mit ihr um die
Worte. Sicherlich wäre es einfacher, würde der Kopf
sich nicht einmischen. Ich
weiß nicht, was ich gesagt hätte, wenn ich
gesprochen hätte, werde es nie
wissen. Das Schweigen richtet sich nicht gegen Sie. Es ist für
Sie. Der Angst
ist das Schweigen erwachsen. Meiner Angst. Sie in Gegenden zu geleiten,
in denen
Sie nichts zu suchen haben. Sie sind jung, Luis. So jung. Ich denke es
immer
wieder. Ihr lebhafter Blick kann von einer Sekunde auf die andere
geknickt sein.
Sie sind zerbrechlich, von einer unfaßbaren
gläsernen Schönheit, die Sie mit
größter Sorgfalt verstecken. Ihr Gesicht
gefällt mir, wenn der Schmerz in
seinen Augen aufsteigt, sich ausbreitet, es kleidet und Sie ihn mit
einer
Handbewegung wegwischen wollen. Dann grübe ich am liebsten in
Ihnen herum.
Gleichzeitig verbietet sich der Drang. Ich sage mir, für Sie
birgt das Leben
andere Schätze. Was vor Ihnen liegt, unterscheidet sich zu
sehr davon, was ich
hinter mir gelassen habe. Ich weiß noch nicht, ob die
Offenheit für die Welt,
die Sie in Ihrem Gesicht tragen, in Ihnen wurzelt oder ob sie aus
Höflichkeit
mit Ihren Worten verflochten ist. Im Grunde denke ich, daß
sie Ihnen eigen ist.
Ich glaube, Ihre Offenheit rührt mich am meisten. Ihre
Aufmerksamkeit. Ihr vor
nichts zurückschreckender Blick. Das pure Verlangen, das wie
ein Schritt Teil
des Gehens ist. Eindeutigkeit. Bewegung. Tatsache.
Wenn ich in der Nacht am See zu Ihnen gesprochen hätte,
hätte ich Sie
aufgefordert zu handeln. Ich hätte gefragt, seit wann etwas
zwischen uns ist
und uns lockt. Ich hätte wissen wollen, ob Sie bereit
wären, augenblicklich
alles stehen- und liegenzulassen. Vielleicht war zu irgendeinem
Zeitpunkt die
notwendige Kraft vorhanden, eine Entscheidung zu treffen. Wir haben
beide an
verschiedenen Dunkelheitsgraden der Nacht gezaudert. Allzu gern
wäre ich Ihnen
nahe gewesen, um Ihren Körper zu erforschen und die immer
wiederkehrenden
Gedanken zu töten, die jetzt mein Hirn überfluten.
Ich hätte so viel wie möglich
von Ihnen in Erfahrung bringen wollen, um zu ermessen, in welchen
Gegenden Sie
atmen. Ich habe es nicht getan, weil ich zweifle, mich
fürchte, zögere. Das
Verlangen errichtet sich auf Trümmern. Es ist
unmöglich, auf schwindendem
Boden aufrecht stehen zu bleiben. Er würde uns verschlingen.
Ich hätte gern
meine Finger in Ihre Haut gebohrt. Meine Hände haben mich vor
Ihrem jungen
offenen Blick zurückgehalten. Ich hatte Angst, den Glanz Ihrer
Augen zu trüben,
Ihren Atem zu vereisen. Diese Furcht hat sich meiner ungeachtet
aufgedrängt.
Ich will Ihnen sagen, daß ich zutiefst davon berührt
bin, was in der Nacht
geschehen ist. Hätte ich keine Bedenken, die mich daran
hinderten, zu handeln,
dann würde ich es tun, ich weiß es. Auch wenn Sie
dies jetzt wissen, lassen
Sie sich zugleich nicht von den Worten blenden, die ich in der Nacht
hätte
sagen können und die ich Ihnen jetzt sage. Sie sind
für Sie. Wenn ich an Sie
denke, erschüttert mich die Erfahrung noch immer. Stehen Sie
neben mir,
erhasche ich Ihren Duft, als wäre er eine Welle an einem
Sonntagmorgen, die
sich auf der glatten Meeresoberfläche verliert und der meine
Augen folgen."
"Ella", schreibt Luis, "ich vermisse Sie über alles. Ich will
Sie niemals wiedersehen. Ich kann nicht. Sie sind zierlich, anziehend,
schön,
unsäglich schön. Ein Abgrund klafft vor mir auf, vor
dem ich nie hätte stehen
wollen. Könnte ich mich nur in Ihre Hände
gießen, die mich wie Ton formen,
sie dann anhauchen und auf ihren Flügeln wegschweben. Ella,
Sie sind das Dunkel
der Nacht, dessen Schwärze das Blätterwerk zum
Leuchten bringt. Sie sind der
singende Vogel. Im Schlaf höre ich ihn immer. Sie sind die
namenlose Farbe, die
ich suche. Nähere ich mich ihr, überkommt mich Angst.
Ich renne weg und meide
es, sie zu erblicken. Wir müssen Abschied nehmen, bevor wir
uns im Fleisch
begegnen. Mein Herz bebt, wenn ich Sie sehe. Es wäre
unritterlich, würde die
verraten, die ich liebe, meine Frau und meine Kinder. Dessen bin ich
nicht fähig.
Ich wäre bekümmert, meine Angehörigen zu
verlassen, und ich bin untröstlich,
Sie, Ella, zu verlieren. In der Trauer auszuharren ist mein Schicksal.
Meine
einzige Freude bleibt, Sie eines Nachts gesehen und gespürt zu
haben, wie Sie
an mir vorbeigingen und Wellen Sie begleiteten. Ich hätte
gewünscht, meine Hände
hätten Sie zurückgehalten, das sollten Sie wissen."