Wolf Haas: "Der Brenner und der liebe Gott"


Der Brenner ist tot. Es lebe der Brenner! Aber pass auf. Gestorben ist der Brenner gar nicht.

Das hat zumindest der Autor Wolf Haas in einem Interview gesagt. Nur der Erzähler hat die Kurve gekratzt gegen Ende von "Das ewige Leben". Also, kein Problem, Simon Brenner als Chauffeur wieder zwischen Buchdeckeln auferstehen zu lassen. Quasi eine neue Situation. Der Herr Simon ist nämlich Chauffeur und fährt bevorzugt das Töchterchen eines steinreichen Bauunternehmers zwischen Wien und Kitzbühel spazieren. Aber pass auf. Auch der Erzählton ist anders. Es ist nämlich etwas passiert. Irgendwie haben sich die Ereignisse ineinander verstrickt. Der Herr Simon kennt sich auch nicht aus. Ist sogar so blöd, dass er an einer Tankstelle Halt macht und das kleine Mädchen im Auto zurücklässt. Als er nach einigen Minuten zurückkehrt, hat er keinen Fahrgast mehr.

Als Detektiv hätte der Brenner vielleicht fachmännisch agiert. Aber hör mal zu. Viel dümmer geht es nimmer. Der Chauffeur Simon Brenner läuft wie ein Gestörter die Tankstelle und Umgebung auf und ab, sucht dann sogar im Handschuhfach nach dem Mädchen. Vielleicht ist es auch nur ein Racheakt eines Abtreibungsgegners? Du musst nämlich wissen: Die Mutter des Mädchens hat eine Abtreibungsklinik und schon einige Drohungen erhalten. Vor der Klinik stehen die Abtreibungsgegner mit Embryopüppchen Spalier, die sie den möglichen Kundinnen vor die Nase halten. Also, der Herr Simon macht noch den Kofferraum auf, wo auch keine Spur von dem Mädchen ist. Und wenn es nur ein Scherz war? Möglicherweise kommt sie ganz alleine zurück?

Aber nix da. Der Brenner schaut dumm aus der Wäsche und ruft nicht die Polizei an. Dafür bekommt er bald Besuch von der Polizei und wird als möglicher Entführer vernommen. Er hat einige Stunden Befragungen zu überstehen und wird dann mangels Beweisen in die Freiheit entlassen. Und sieh an, kaum ist er draußen, bekommt er ein Stellenangebot. Der Gründer des Vereins der Abtreibungsgegner will ihn seinerseits als Chauffeur einstellen. Dabei hat ihn der Vater des Mädels, das ihm stibitzt wurde, noch nicht einmal entlassen. Der Herr Simon hat sich nicht getraut, die Mutter der Entführten anzurufen, doch der reiche Bauunternehmer wird dann im Laufe der Geschichte eine besonders theatralische Rolle spielen.

Der Herr Simon nimmt die Ermittlungsarbeit auf, obwohl er gar kein Detektiv mehr ist. Er soll sich auch auf die Suche nach einem etwa zwölfjährigen Mädchen machen, das Kundin der Abtreibungsklinik gewesen sein soll. Quasi gleich zwei Aufträge. Zwei Fliegen mit einer Klappe zu schlagen ist nicht so einfach. Aber pass auf. Kaum ist der Herr Simon ermittlungstechnisch unterwegs, ist er der Brenner. Das ist ein fließender Übergang von einer harmlosen Entführungsgeschichte zu einer mega-brutalen Räuberpistole.

Die Handlung ist enorm. Der Brenner hat mit Leichen zu tun, die an unangenehmen Örtlichkeiten abgelegt wurden. Und er legt sich mit einer Südtirolerin an, die ein bombastisches Zahlengedächtnis hat. Da fliegen die Fetzen, und der Brenner trifft schließlich sogar den lieben Gott; zumindest ein Wesen, das er dafür hält. Aber pass auf. Der Erzähler schildert wie ein Agnostiker oder ein Atheist. Der Brenner wiederum hat schon eine Vorahnung vom Jenseits, ehe er dann doch noch ein zweites oder vielleicht sogar drittes Mal das Licht der Welt erblickt.

Der Erzähler ist kein Moralapostel. Er will in erster Linie unterhalten und in zweiter Linie die Wiederauferstehung vom Brenner feiern. Es stellt sich nur die Frage, ob es wirklich notwendig war, die Metamorphose vom Herrn Simon zum Brenner zwischen Buchdeckel pressen zu lassen? Hör zu und pass auf. Die Geschichte ist ein bisserl zu aufgebläht, teilweise in sich selbst verliebt. Der neue Erzähler kann dem früheren nicht wirklich das Wasser reichen. Quasi dumm gelaufen. Der Brenner war so lustig und fidel, hatte Problemchen und Probleme, stolperte jedes Mal mit Bravour den Lösungen der Fälle entgegen. Und diesmal? Die Leichen stapeln sich, und der Brenner kommt nur mit dem Leben davon, weil es sich der neue Erzähler so ausgedacht hat. Aber pass noch ein letztes Mal auf. Schlecht ist dieser Krimi auch wieder nicht. Er hat schon was zu bieten abseits von Leichenbergen. Ein bisserl philosophiert wird auch darüber, wann Leben beginnt, und wieso der Mückenflug die beste Vorstellung vom "Dasein" vor und nach dem Leben sein mag. Mehr will ich nicht verraten. Quasi Ende der Fahnenstange oder aus die Maus.

(Jürgen Heimlich; 09/2009)


Wolf Haas: "Der Brenner und der liebe Gott"
Gebundene Ausgabe:
Hoffmann und Campe, 2009. 224 Seiten.
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Taschenbuchausgabe:
dtv, 2011.
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Ein Hörbuchtipp:

Wolf Haas: "Brenner live"

Umwerfend und unvergleichlich: Wolf Haas liest aus seinen Krimis.
"Jetzt ist schon wieder was passiert": Privatdetektiv Simon Brenner bekommt es in dieser überragenden Lesung auf einen Schlag mit all seinen bisherigen Mordfällen zu tun. (Hoffmann und Campe)
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Zwei weitere Buchtipps:

Sigrid Nindl: "Wolf Haas und sein kriminalliterarisches Sprachexperiment"

Was macht die besondere Wirkung der Sprache von Wolf Haas in seinen "Simon Brenner"-Romanen aus? Wie lässt sich seine Literatursprache beschreiben? Welche Wörter, Satz- und Textstrukturen verwendet er? Was sind Besonderheiten der Erzähler- und der Figurenrede? Welche weiteren Schreibstrategien sind charakteristisch?
Diesen Fragen widmet sich die vorliegende Arbeit. Die Untersuchung des vollständig digitalisierten Corpus beinhaltet sowohl quantitative als auch qualitative Analysen und verläuft von einer Betrachtung der Mikrostruktur einzelner Wörter bis hin zur Makrostruktur der textuellen Verknüpfung. Damit wird über die Ebenen der Morphologie, Lexik, Syntax und Textualität die Sprache und ihre Stilqualität als Ganzes in ihrer Wirkung erfasst. Dabei soll gezeigt werden, dass der besondere Reiz der Sprache in den "Simon Brenner"-Romanen im Spannungsverhältnis von fingierter Mündlichkeit und Schriftlichkeit begründet liegt. Die Wirkung beruht allerdings nicht auf einer alleinigen Imitation von Mündlichkeit in der Sprache, sondern auf deren überzeichneten Stilisierung. Der scheinbar spielerische Wechsel von Nähe und Distanz ist das, was die Sogwirkung dieser Sprache ausmacht. (Erich Schmidt Verlag)
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Thomas Raab, geboren 1970, lebt nach abgeschlossenem Mathematik- und Sportstudium als Schriftsteller, Komponist und Musiker mit seiner Familie in Wien. Zahlreiche literarische und musikalische Nominierungen und Preise, zuletzt "Buchliebling" 2011. Die Kriminalromane rund um den Restaurator Willibald Adrian Metzger zählen zu den erfolgreichsten in Österreich, an deren Verfilmung wird bereits gearbeitet. (Droemer)
Weiteres zum Autor: https://www.thomasraab.com.
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