Wassili Grossman: "Tiergarten"
Erzählungen
"Was
vom Menschen übrig bleibt?"
Wassili Grossman, der erst vor einigen Jahren mit der
Neuübersetzung seines Antikriegsepos "Leben und Schicksal"
gebührende Aufmerksamkeit erreichte, wird nun von Claassen mit
einem Erzählungsband bedacht. Die für "Tiergarten"
ausgewählten Erzählungen stammen aus dem
umfangreicheren Erzählungsband "Wsjo tetschot. Posdnaja Prosa"
("Alles fließt. Späte Prosa", 1994 Moskau).
Wassili Semionowitsch Grossman (1905-1964) begann seine Karriere als
linientreuer und anerkannter Schriftsteller der Sowjetunion. Die
Erfahrungen zweier Weltkriege, die Terror- und Gewaltakte
Stalins,
sowie das Wissen um die Konzentrationslager Hitlerdeutschlands und die
Vernichtung der europäischen Juden veränderten sein
Weltbild radikal.
Die Hoffnung, dass das Menschliche im Menschen nie aussterben
würde, merkt man in allen Erzählungen dieses Bandes
deutlich. Erzählungen, in denen es um Verrat, um Vertrauen,
Liebe, Enttäuschung, Schuld und Vergebung geht.
Die diesen Erzählungen eigene narrative Dichte entsteht durch
den bewussten Verzicht auf das Epische. Wassili Grossman treibt seine
Geschichten in ruhigem Erzählgestus weiter und erreicht durch
die fast lakonische Skizzierung seiner Figuren, durch Andeutungen eine
besondere Nähe zu seinen Protagonisten.
Schon die früheste Erzählung dieses Bandes "Die Junge
und die Alte" (geschrieben 1938 und revidiert 1962) ist ein
Meisterwerk. Diese Erzählung, die scheinbar noch in
"sozialistisch-realistischen" Bahnen beginnt, erzählt die
Geschichte einer jungen Aufsteigerin und einer vom Schicksal
gebeutelten älteren Dame, die gemeinsam Urlaub machen.
Beeindruckend, wie Wassili Grossmann unspektakulär seine
Figurenzeichnung vorantreibt. Virtuos, wie Grossman fließende
Perspektivwechsel passieren lässt und die Erzählung
in den letzen Sätzen kippt.
Der Abwurf der
Atombombe über Hiroshima ist Ausgangspunkt der
Erzählung "Abel (6. August)". Hier zeichnet Grossman vor dem
Hintergrund dieses Ereignisses das Zerbrechen eines direkt beteiligten
Piloten.
Diese zweiteilige Erzählung ist ein Meisterwerk in formeller
und literarischer Hinsicht. Im ersten Teil werden die Protagonisten und
die Tatsache vorgestellt, dass diese Mannschaft eine neuartige Bombe
über einer japanischen Großstadt abwerfen soll, ohne
dass die Piloten wirklich wüssten, was sie tun werden. Der
zweite Teil beginnt mit dem frühmorgendlichen Einflug
über Japan. Mit der Mannschaft fliegt ein geheimnisvoller
Passagier. Die Zeichnung dieses begleitenden Passagiers, der als
Einziger weiß, was diese Bombe anrichten wird, ist frei von
jeder Art des moralisierenden Tonfalls.
"Der Passagier schaute, den großen kahlen Kopf
gesenkt, aus dem Kabinenfenster - die düstere
Vorwärtsbewegung in der feuchten Finsternis versetzte ihn in
Erstaunen. Er sah den gewaltigen Ozean des Dunkels zum ersten Mal, und
dieses Schauspiel beunruhigte ihn."
Die ruhige Schönheit der Sätze Wassili Grossmans beim
Anflug und Abwurf der Bombe auf Hiroshima ist brillant.
"In dem Moment, als die Maschine die japanischen Inseln
anflog, begann die Sonne aufzugehen.
Das erste Morgenlicht streifte das zerzauste blonde Haar des
Bombardiers und blieb als leuchtende Wolke um sein Haupt herum stehen.
Der junge Mann beugte sich über die Zielvorrichtung,
beobachtete mit angehaltenem Atem die Zeiger an den Geräten
und überprüfte ein letztes Mal die mit den
Geräten abgestimmte langsame, fließende Bewegung des
Zielfadens, der noch weit von der Markierung entfernt war ...
... Die starken, alles erfassenden Linsen hoben den Ozean und das Land
wie auf einem riesigem Handteller empor und führten sie direkt
an Josephs Augen heran. Er erblickte Tausende von Einzelheiten dieses
Morgens: das Ozeanwasser, das plätscherte und atmete, die
löchrige, weißrosa Gischt der Brandung, die sich bis
in die endlose Weite kräuselte, das Grün der
Reisfelder, durchzogen von den diamantenen Schuppen der
Bewässerung, und die Stadt, die schnell nach Westen abdriftete
und von der jener betörende Reiz ausging, den fremde
Städte im Übermaß haben, vor allem in den
frühen Morgenstunden. Das Auge registrierte schnell das
fremdartige Aussehen der Häuser und Straßen, die
leuchtenden Farbflecke der Dächer, und das Herz
spürte, dass auch in dieser fremden Stadt zu dieser
frühen Stunde hübsche Mädchen verschlafen
lächelten, Mütter aus den Fenstern ihren in die
Schule rennenden Kindern hinterhersahen und alte Menschen sich
über einen neuen Morgen mit blauem Himmel, voller
Wärme und Licht, freuten ..."
In der verstörenden essayistischen Erzählung "Die
sixtinische Madonna" stellt Wassili Grossman einen Bezug zwischen der
ihr Kind dem Schicksal entgegenstreckenden Mutter und dem schweren
Schicksal der Menschen her. Er stellt sich die Frage, warum im Gesicht
der Mutter keine Angst vor dem Kommenden zu sehen sei. Er zitiert in
dieser Erzählung symbolisch aus seinem Essay "Die
Höllen von Treblinka" (1945).
In der Erzählung "In ewiger Ruhe" begibt sich Wassili Grossman
auf den Wagankowskoje-Friedhof in Moskau. Der Friede von den die
Gräber besuchenden Angehörigen wird ebenso
dargestellt ("Und nun steht keine Wand mehr zwischen den
liebenden Ehegatten, keine Eifersucht, Angst, Ungunst
gegenüber dem Kind des ersten Mannes ... ") wie die
dubiosen Machenschaften der damaligen Genossenschaften und der Kirche.
In der abschließenden Erzählung "Wenn alles
einstürzt" sitzt die Familie um das Bett der vermeintlich
nichts mehr von ihrer Umwelt mitbekommenden sterbenden Schwester,
Tante, Großmutter, Schwiegermutter. Nach Xenia Alexandrownas
Tod muss die Familie den Nachlass in einer Nacht aufarbeiten und
aufteilen. So lässt Wassili Grossman das Leben der
Verstorbenen Revue passieren. Am Ende dieser Nacht macht sich die
Enkelin Ira auf den Weg zur Hochschule und hört, wie zwei
junge Männer in einer Art Wechselspiel das "Torerolied" aus
Georges Bizets Oper "Carmen" pfeifen. Und so schließt diese
Erzählung mit den Worten
"Ira dachte: 'Da schau an, wie leicht das Erbe von Bizet sich
aufteilen lässt.'"
Offen bleibt die Frage: Was bleibt vom
Menschen?
"Tiergarten" ist ein Erzählungsband mit fünfzehn
grandiosen Erzählungen eines wunderbar menschlichen
Erzählers; eines Erzählers, der obwohl
enttäuscht von den Geschehnissen seiner Zeit, unbeirrt an das
Gute im Menschen geglaubt hat.
Wassili Grossmans facettenreiche Prosa, sein mitfühlender und
emotionaler Ton ist eine große Entdeckung.
(Roland Freisitzer; 06/2009)
Wassili
Grossman: "Tiergarten"
(Originaltitel "Wsjo tetschot. Posdnjaja prosa")
Aus dem Russischen von Katharina Narbutovic
und mit einem Nachwort versehen von Franziska Thun-Hohenstein.
Claassen, 2009. 313 Seiten.
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Wassili
Grossman, 1905 in Berditschew, Ukraine, geboren, war zunächst
Chemieingenieur. Als einer der bekanntesten linientreuen sowjetischen
Schriftsteller erlebte er den "Vaterländischen" Krieg als
Korrespondent der Armeezeitung "Roter Stern", sah sich aber nach
Kriegsende heftigen Angriffen ausgesetzt. Das Manuskript von "Leben und
Schicksal" wurde 1961 beschlagnahmt, drei Jahre später starb
Grossman.
Die russische Originalausgabe erschien 1980 in Lausanne, die deutsche
Erstausgabe 1984. Neben "Leben und Schicksal" hinterließ
Wassili Grossman zahlreiche Novellen und Erzählungen.
Weitere Bücher des Autors:
"Leben und Schicksal"
Wassili Grossmans Gesellschaftsepos über die Schlacht um
Stalingrad ist wie
Tolstois "Krieg und Frieden"
eines der wichtigsten Werke der russischen Literatur - ein Meisterwerk,
durchdrungen von enormer erzählerischer Kraft, von tiefer
Einfühlung in die Leiden der Opfer und einer umfassenden
Erkenntnis über die Mechanismen hinter der Tragödie
des 20. Jahrhunderts.
Als Anfang Februar 1943 die 6. deutsche Armee in Stalingrad
kapituliert, bedeutet dies nicht nur die Wende im
Zweiten
Weltkrieg, für die Sowjets ist Stalingrad auch ein
Wendepunkt in ihrem Verhältnis zu Diktatur und Terror. Mit
großer Anteilnahme beschwört Wassili Grossman
Episoden aus dem Kampf an der Wolga, erzählt vom
Häftlingsleben und -sterben in deutschen KZ, Gefangenenlagern
und in den sowjetischen Gulags, wobei die frappierende Verwandtschaft
von
Nationalsozialismus
und Sowjetregime offengelegt wird. Ob der
Physiker Strum und die weitverzweigte Stalingrader Familie
Schapownikow, der in einem deutschen Lager inhaftierte Michail
Mostoskoi,
die deutschen und sowjetischen Militärs, Wissenschaftler,
Soldaten und Bürger - Wassili Grossman hat die vielen
Einzelschicksale zu einem groß angelegten
Erzählkosmos verwoben, der trotz der Schrecken des
Totalitarismus von der einen Hoffnung nicht lässt: der
einfachen menschliche Güte, die selbst dann ihre Wirkung
zeigt, wenn die äußeren Ereignisse
gleichgültig und brutal über sie hinweggehen. (List)
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"Alles fließt"
Nach dreißig Jahren Gefängnis und Lager kehrt Iwan Grigorjewitsch in die
Freiheit zurück. Er zieht nach Moskau, dann weiter nach Leningrad, findet
Arbeit und eine Frau. Wieder gehen die Jahre dahin - und Iwan versucht zu
verstehen, nach welchen Gesetzen das Leben funktioniert. Von der Russischen
Revolution bis hin zur Tauwetterperiode spannt Wassili Grossman den Bogen um
Fragen nach Staat und Individuum, Verbrechen und Strafe, Schuld und Unschuld. Im
Mittelpunkt steht dabei sein gütiger Blick auf die Fehlbarkeit des Menschen. (Ullstein)
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