Steffen Martus: "Die Brüder Grimm"
Eine Biografie
Wer
kennt sie nicht, die Brüder
Grimm?
Der Autor studierte Geschichte, Germanistik und
Philosophie in Regensburg und Berlin und lehrt als Professor
für Neuere
Deutsche Literatur an der Christian-Albrechts-Universität zu
Kiel.
Das Zeitalter der
Romantik ist der einigermaßen flache
Oberbegriff für eine
Zeit stetigen Wandels und plötzlicher Umbrüche, von
Erneuerung und
Restauration, Stärkung der res publica an einer und ihrer
Entmündigung an
anderer Stelle. Napoleon, der die bis weit in das 19. Jahrhundert
nachbebende
Französische Revolution als Sprungbrett genutzt hatte,
führte das praktische
Ende der Kleinstaaten herbei, schuf den Rheinbund und verheerte auf der
anderen
Seite ganze Landstriche. Der Code Napoleon entwurzelte ganz nebenbei
eine ganze
Generation von Juristen - vorrübergehend. Mit viel Fantasie,
oder besser mit
sehr viel Fantasie, könnte man Napoleon, den "Weltgeist
zu Pferde",
wie ihn Hegel im unbegreiflichen Überschwang nannte, und
seinen Raubzügen
etwas Gutes abgewinnen, zumindest wenn man den Blick auf Gebiets-,
Verwaltungs-
und Rechtsreformen lenkt. Auf Napoleon und seinen in Hannover
regierenden Bruder
Jerôme folgte der Wiener Kongress mit der Neuordnung Europas,
während
zeitgleich in Jena eine andere Bewegung einsetzte, die ihren ersten
Ausdruck
1817 im Wartburgfest fand. In Frankreich entzündete sich 1830
die
Julirevolution, 1832 fand an den Hängen des Pfälzer
Waldes das Hambacher Fest
statt. 1833 erhielt das Königreich Hannover eine Verfassung,
die Folgekönig
Ernst August 1837 wieder kassierte. Der März 1848 gab als
Monat der ersten
deutschen Revolution einer literarischen Epoche einen Namen, einer
Revolution,
mit der das Frankfurter Parlament einhergeht, die Nationalversammlung,
scheinbar
mit geschichtlicher Notwendigkeit gefolgt von der Restauration.
Diese hochdynamische Epoche bildete den Rahmen, innerhalb dessen sich
die Brüder
Grimm bewegten. Jacob Grimm, der Ältere der beiden, war in
diplomatischen
Diensten in Paris und beim
Wiener Kongress, verfasste 1837 mit seinem
Bruder
Wilhelm und fünf weiteren Professoren die Protestation der
Göttinger Sieben
als Antwort auf Ernst Augusts Verfassungshandstreich und saß
im Frankfurter
Parlament, war also zumindest oft in der Nähe des politischen
Geschehens.
Doch das Hauptaugenmerk der Brüder Grimm galt der deutschen
Sprache, der sie
mit wissenschaftlichen Methodiken zu Leibe rückten. So kann
man sie als Gründungsväter
einer deutschen Philologie ansehen. Doch diese deutsche Sprache
existierte ja
nicht getrennt von der Wirklichkeit des frühen 19.
Jahrhunderts, sie
entwickelte sich vielmehr als deren Bindemittel. Und so kann man
Literatur,
Philologie und Politik auch nicht voneinander trennen, zumindest nicht
im Falle
der Brüder Grimm.
"Die Kinder- und Hausmärchen [...] sind das weltweit
bekannteste
deutsche Buch neben der
Lutherbibel, mit Übersetzungen in
über hundertsechzig
Sprachen", schreibt der Autor. Nicht leicht sind die
Märchen
einzuordnen, die die Grimms hinsichtlich der Entstehungsgeschichte
selbst
verbreiteten, denn die vorgebliche mündliche
Überlieferung war keineswegs die
einzige Quelle, weil die Brüder überwiegend in
Bibliotheken sammelten und
Korrespondenten zum Sammeln anregten. Vermutlich ist dies auch der
einzige Weg,
doch die Legendenbildung verwundert dann doch ein wenig. Im Mai 1816
erschien
der erste Band der Deutschen Sagen vor dem zweiten wichtigen Baustein
der
Grimmschen Literaturgeschichte.
Bibliophilie und unermüdlicher Arbeitseifer ist beiden doch so
unterschiedlichen Charakteren zuzuordnen, die sich vielleicht auch
deshalb so außergewöhnlich
ergänzten. Sie forschten, lehrten und sammelten. Das
Mammutprojekt Wörterbuch
war seitens der Grimms ein eher ungeliebtes Kind, doch auch dieses
stießen sie
an. Es galt rund 600.000 Belegzettel von etwa 100 Exzerptoren zu ordnen
und zu
verarbeiten, die auf ein Gesamtwerk von sechs bis sieben
Bänden zu je 800
Seiten angelegt waren. Doch erst 120 Jahre nach dem
Verlagsvertragsabschluss von
1847 lag das Werk vollständig vor, und zwar mit 32
Bänden zuzüglich
Quellenband. 1854 erschien der erste Band: A bis Biermolke im Hirzel
Verlag
(damals Leipzig), der es heute noch anbietet (in Stuttgart).
Fazit:
Die Biografie der Brüder Grimm ist für diejenigen
geschrieben, die Literatur
und Zeitgeschichte als zwei Seiten einer Medaille betrachten. Dieser
Ansatz muss
ohnehin für die meisten literarisch Schaffenden gelten, denen
man in Biografien
begegnen kann. Und für die Brüder Grimm gilt das, wie
oben gezeigt, in
besonderem Maß. Als Besitzer von nahezu 200 Biografien
erlaubt sich der
Rezensent, dem vorliegenden Werk die Höchstnote zuzuerkennen.
Historische und
philologische Kompetenz des Autors mit einem deutlich erkennbaren
Erzählfaden
werden in einer eleganten Sprache präsentiert. Dabei wahrt er
die
professionelle Distanz zu Jacob und Wilhelm Grimm. Diese werden zwar
bei ihren
Vornamen genannt, was aber vielleicht wegen der zwei Personen
unaufdringlich
wirkt.
Ein hundertseitiger Anhang mit Anmerkungen, einem allein
dreißigseitigen
Literaturverzeichnis, Personenregister und Zeittafel komplettieren
dieses
bemerkenswerte Buch. In der Buchmitte befindet sich ein
zwölfseitiger
Abbildungsblock auf Bilderdruckpapier.
(Klaus Prinz; 09/2009)
Steffen
Martus: "Die Brüder Grimm. Eine Biografie"
Rowohlt Berlin, 2009. 608 Seiten.
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Noch
ein Buchtipp:
Heinz Röllek (Hrsg.): "Brüder
Grimm: Kinder- und Hausmärchen. Ausgabe
letzter Hand. Mit einem Anhang sämtlicher, nicht in allen
Auflagen veröffentlichter Märchen"
Die Märchensammlung der Brüder Jakob und Wilhelm
Grimm ist das weltweit
bekannteste Buch deutscher Sprache, ihr Personal - vom
Froschkönig über
Hänsel
und Gretel, Dornröschen oder
Aschenputtel bis zu Hans im Glück - ist
jedem vertraut.
Zu Lebzeiten der Brüder Grimm erschien die
Märchensammlung in sieben Auflagen,
die immer wieder leichte Veränderungen erfuhren. Die "Ausgabe
letzter Hand"
legt der Grimm-Experte Heinz Rölleke seiner Ausgabe zugrunde,
wobei in einem
Anhang sämtliche Märchen geboten werden, die von
früheren Auflagen nicht in
diese letzte übernommen wurden, so dass diese Ausgabe den
kompletten Bestand
aller Grimmschen Märchen in einem Band bietet. Der Text wurde
einer Revision
unterzogen, in der die traditionelle Bearbeitung der historischen
Orthografie
auf ein leserfreundliches Minimum reduziert wurde, um so der originalen
Sprachlichkeit stärker gerecht werden zu können.
(Reclam)
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