Wilhelm Genazino: "Das Glück in glücksfernen Zeiten"
Wieder entdecke ich, dass
die Menschen (ich) nur für die erste Hälfte des Tages genug Kraft haben. Wenn
ich könnte, würde ich das Projekt "Halbtags leben" erfinden. Jeder
Mensch sollte das Recht haben, sich in der zweiten Hälfte des Tages von der
ersten zu erholen.
(Auszug aus "Das Glück in glücksfernen Zeiten")
Glück ist relativ oder Das Scheitern eines Glückssuchers
Gerhard Warlich, ein 41-jähriger promovierter Philosoph,
schlendert durch eine
Großstadt, beobachtet banale Geschehnisse des Alltags und
führt Zwiegespräche
mit sich selbst. In einer Szene im ersten Kapitel wird ihm bewusst,
dass er
nicht nur beobachtendes Subjekt, sondern ebenso beobachtetes Objekt
ist. Er fühlt
sich als Erfinder einer Blickkette und gerät in Hochstimmung.
Ist Glück
so einfach zu finden?
Autor Genazino beschreibt in seinen Werken Lebenskünstler,
labile Individuen,
Tagträumer und gescheiterte Existenzen. Es gelingt ihm immer
wieder, innerhalb
dieser Bandbreite nicht alltäglicher Charaktere, neue
Persönlichkeitsprofile
zu entwickeln. Typisch für seine Prosa sind
ausführliche Beschreibungen von
Nebensächlichkeiten, meist Beobachtungen von
Banalitäten.
Gerhard Warlich ist kein Lebenskünstler, wie der Protagonist
in "Ein
Regenschirm für diesen Tag" und auch kein emotional
gleichgültiger
Mensch wie Dieter Rotmund in "Mittelmäßiges
Heimweh". Er ist ein nonkonformistischer Melancholiker, der
sich im
Alltag nicht überarbeiten möchte und in subjektiv
schwierigen Zeiten Freiheit
und Unabhängigkeit sucht, die er mit Glück
gleichsetzt.
Es geht aber nicht nur um
die
Suche nach Glück. Auffallend ist die Ironie, wenn es
um den monetären Wert
geisteswissenschaftlicher
Bildung
geht. Warlich hat nach seiner Promotion keinen
adäquaten Beruf gefunden. Dies sei nach Meinung seines
früheren Professors
auch nicht zu erwarten, wenn man ausgerechnet Philosophie studiert hat.
Ein früherer
Studienkollege von ihm hält heute nach eigener Aussage
"oberschlaue"
Vorträge bei der VHS.
Warlich arbeitet seit 14 Jahren in einer
Großwäscherei. Er hat sich dort vom
Fahrer bis zum Organisationsleiter hochgearbeitet. Mit seiner Freundin
Traudel,
Leiterin einer Bankfiliale, bewohnt er eine Wohnung in einem ruhigen
Mietshaus.
Sie kennen ihre Schwächen und haben sich miteinander
arrangiert. Warlich,
seinem Naturell nach kein Energiebündel, scheut
Veränderungen, insbesondere
solche, die mit Verantwortung zu tun haben.
Seine Welt gerät aus den Fugen, als seine Freundin ein Kind
haben will. Mit
dieser Situation ist er überfordert. Seine latent vorhandene
Verrücktheit
bahnt sich einen Weg an die Oberfläche. Er verspürt
den Drang, nicht mehr das
zu tun, was von ihm erwartet wird. In der Folgezeit verliert er seinen
Arbeitsplatz und wird sozial auffällig. Sein sonderbares
Verhalten führt ihn
schließlich in die Psychiatrie.
Ist Warlich damit existenziell gescheitert? Das wäre zu
einfach gedacht und
allenfalls die äußere Sicht der Situation. Der Preis
für ein bisschen
Wahlfreiheit kann hoch sein, und jeder ist seines Glückes
Schmied. Warlich
bleibt seinen eigenen Prinzipien treu. Glück ist relativ, wie
schon der Titel
des Buches andeutet.
Wilhelm Genazino ist mit diesem Buch wieder einmal eine facettenreiche
Charakterstudie gelungen. Auffallend sind strukturelle
Ähnlichkeiten zu seinen
früheren Werken (Beobachtungsgabe des Protagonisten,
Ich-Erzähler, zufällige
Begegnungen mit früheren Bekannten), die sich aber auf den
Lesegenuss positiv
auswirken, weil sie seinen Stil prägen. Ausführliche
Beschreibungen seltsamer
Beobachtungen und Gedanken gehören bei Genazino einfach dazu.
Der Roman ist
unterhaltsam und einer breiten Leserschaft zu empfehlen.
(Klemens Taplan; 02/2009)
Wilhelm
Genazino: "Das Glück in glücksfernen Zeiten"
Gebundene Ausgabe:
Hanser, 2009. 160 Seiten.
Buch
bei amazon.de bestellen
Taschenbuchausgabe:
dtv, 2011. 160 Seiten.
Buch
bei amazon.de bestellen