Philipp Blom: "Der taumelnde Kontinent"
Europa 1900-1914
Verstörende Dynamik zwischen Jahrhundertwende und Weltkrieg
Gern rechnen Historiker die Jahre von 1900 bis zum Ausbruch des Ersten
Weltkriegs noch dem 19. Jahrhundert zu, mit dem sie natürlich
in vielerlei Hinsicht eng verbunden sind. Philipp Blom zeigt in seinem
Buch "Der taumelnde Kontinent" demgegenüber die Eigendynamik
auf, die diese Jahre entwickelten, ihre Rasanz und die
Umwälzungsprozesse, die, zusammengenommen, eine sehr deutliche
Zäsur gegenüber dem 19. Jahrhundert darstellen.
Der Autor widmet jedem der Jahre von 1900 bis 1914 ein Kapitel, das
eine für das jeweilige Jahr symptomatische Problematik oder
Entwicklung herausgreift. Nach der Einleitung setzt das Buch bei der
Pariser Weltausstellung von 1900 an, die bereits etliche der
anstehenden Entwicklungen vorausahnen lässt und Tendenzen
innerhalb der europäischen Gesellschaft erkennbar macht, etwa
die - wenn auch etwas oberflächliche - Technikbegeisterung und
den Umgang mit Kulturen aus den Kolonien europäischer Staaten.
Einen Einschnitt stellt 1901 vor allem in England der Übergang
vom Viktorianischen ins Edwardianische Zeitalter dar, von einer
strengen hin zu einer Art frühen Spaßgesellschaft,
die aber gleichwohl den Niedergang des Adels nur mühsam
vertuschen konnte. Hierzu gab es, wie der Autor zeigt, auf dem
Kontinent teils Parallelen, teils auch gegensätzliche
Tendenzen.
Das Kapitel zu 1902 ist vor allem
Sigmund Freud und einer Reihe von Künstlern
gewidmet, jenes zu 1903 der Erforschung der Radioaktivität und
weiteren revolutionären Ansätzen innerhalb der
Physik. Im Kapitel über das Jahr 1904 wird die brutale
Ausbeutung des Kongos durch den belgischen König Leopold II.
beleuchtet, den der Autor offensichtlich zu Recht als
Massenmörder tituliert, und die Aufdeckung der dort begangenen
Gräueltaten.
1905 wurde geprägt vom "Blutsonntag" in St. Petersburg und den
davon ausgelösten Auflösungserscheinungen in
Russland. Das Kapitel über das Jahr 1906 befasst sich mit der
Flottenaufrüstung in Großbritannien und Deutschland,
für die stellvertretend die britische "Dreadnought"
steht; eine Aufrüstung, die in den betroffenen
Ländern auch Ängste aufkommen ließ, allem
Selbstbewusstsein zum Trotz.
Im nächsten Abschnitt geht es um allerlei religiöse
und esoterische Strömungen, die in Europa ihre
Anhänger fanden, und das Kapitel zu 1908 vollzieht die
Entwicklung der Frauenbewegung in den verschiedenen Ländern
Europas nach, tragische Einzelschicksale inklusive.
Blériots Überquerung des Ärmelkanals per
Flugzeug ist Aufhänger des sich anschließenden
Abschnitts über die Begeisterung für Maschinen, vor
allem motorisierte Fortbewegungsmittel. Mit dem von
Virginia Woolf 1923 in einem Vortrag auf 1910 datierten
Umdenken innerhalb der Gesellschaft befasst sich das nächste
Kapitel. Hier zeigen sich größere Offenheit
gegenüber früheren Tabus und Interesse an Neuem
innerhalb der Künste, aber auch enorme Unsicherheit, etwa
hinsichtlich der Rolle des Mannes angesichts der
selbstbewusster
auftretenden Frauen.
1911 steht in Bloms Buch für das Kino als neues
Unterhaltungsmedium für breite Schichten der
Bevölkerung, 1912 für das Aufkommen der Eugenik,
beruhend unter anderem auf fehlinterpretierten Passagen aus Nietzsches
Werk. Um einzelne psychisch kranke Menschen, die mit ihrer "neuen Welt"
nicht zurechtkamen und zu Massenmördern wurden, geht es im
vorletzten Kapitel. Dass das letzte mit "Ein politischer Mord" betitelt
ist, dürfte niemanden überraschen.
Die Einteilung des Buchs in Kapitel, die sich mit symptomatischen oder
anderweitig herausragenden Ereignissen und Strömungen der
einzelnen Jahre innerhalb der Epoche zwischen Jahrhundertwende und
Weltkrieg befassen, mag auf den ersten Blick überraschen,
besteht doch die Gefahr, dass über dem Einzelnen der
Überblick über das Ganze verloren geht. Dies ist im
vorliegenden Buch gelegentlich auch gegeben. Insgesamt aber
erschließt sich ein neuartiger Blick auf eine verwirrend
dynamische, von Um- und Neuorientierung sowie teils völliger
Orientierungslosigkeit geprägte Epoche. Die
vielfältigen Auflösungserscheinungen, die den
Kontinent ins Taumeln brachten, werden von Philipp Blom ohne allzu viel
Verzettelung spannend und sorgfältig recherchiert dargestellt.
Das auf dem Einband abgebildete Foto, dessen Geschichte in der
Einleitung detailliert beschrieben wird, gibt die für viele
verstörende Dynamik jener Jahre gut wieder, das ungeheure
Tempo, das manches Wesentliche nur noch verzerrt am Rande stehen
lässt wie die Zuschauer bei dem Rennen, das der fotografierte
Wagen fährt.
Politik, Kultur, Ethik, Technik, Geistes- und Naturwissenschaften
wurden zu Anfang des 20. Jahrhunderts hinterfragt, massiv umgestaltet
und uminterpretiert. Gerade anhand der scheinbar einseitigen
Schwerpunkte der einzelnen Kapitel gelingt es dem Autor, die vielen
unkoordinierten Ansätze, die Ängste und Hoffnungen
der Menschen, die Hilflosigkeit vieler Politiker und die Verblendung
anderer eindrucksvoll und differenziert zu präsentieren.
Etliche Fotos vertiefen den Einblick in eine kurze, doch folgenreiche
Epoche, die in der Tat als Hintergrund eines "taumelnden" Kontinents
beschrieben werden kann. Ein rundum lesenswertes Buch!
(Regina Károlyi; 04/2009)
Philipp Blom: "Der taumelnde Kontinent. Europa 1900-1914"
Gebundene Ausgabe:
Hanser, 2009. 528 Seiten.
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Taschenbuchausgabe:
dtv, 2011. 536 Seiten.
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