Péter Esterházy: "Keine Kunst"
Die
Absurdität einer Mutter
Schon der Titel von Péter Esterházys Roman
lässt etwas von der Mehrdeutigkeit
und dem inhaltlichen Anspruch erahnen. Denn der ungarische Autor
erzählt
keineswegs locker und leger die Geschichte seiner Familie und ganz
speziell die
seiner eleganten, kühnen und provokanten Mutter, auch wenn der
unbeschwerte
Plauderton, der zuweilen Tragisches und Ernstes in beinahe
schockierender
Leichtigkeit übermittelt, dies anfänglich vermuten
lässt. Sondern der
vielfach preisgekrönte Schriftsteller (u. a. 2004 mit dem
"Friedenspreis
des Deutschen Buchhandels" für sein Opus Magnum
"Harmonia
Caelestis")
hat sich - wie es scheint - eines äußerst
anspruchsvollen Stilmittels aus der
Opera buffa bedient: des Parlando, eines schnellen "Singens" mit gut
artikulierter Aussprache und leichter Tongebung unter genauer Beachtung
des
Rhythmus. "Keine Kunst" ist also alles Andere als keine Kunst, sondern
- im Gegenteil - allerhöchste literarische Kunstfertigkeit.
Dabei hat Esterházy ein ziemlich plebejisches Thema - den
Fußball - mit der
vornehmen Aristokratie seiner ehemals gräflichen Adelsfamilie
und dem Aushängeschild
derselbigen - seiner Mutter - verknüpft und dies vor dem
Hintergrund des
kommunistischen Ungarn der Nachkriegszeit angesiedelt. Kunstvoll
verwebt er
diese so ganz und gar nicht zueinander passenden Bereiche und generiert
Lili
Esterházy als autokratisches Verbindungsglied zwischen
derber Vorstadtkickerei
und stilvollem Anspruch, zusätzlich freundschaftlich
verschränkt durch die
Gestalt des ungarischen Fußball-Mythos Ferenc
Puskás aus der
Wunderelf von
Bern.
Esterházy treibt dieses Spiel soweit, dass er seiner Mutter
ebendiese Fußballliebe
als einzig wahre infiltriert. "Es gab nichts, womit meine
Mutter so eine
Leidenschaft verband wie mit dem Fußball, weder mit meinem
Vater noch mit ihren
Kindern noch mit dem Herrgott." Und an dieser Leidenschaft
entlang
rankt er vielerlei ungarische Fußball-Legenden, aber auch
allerhand politische
Kalauer und Parteianekdoten aus der Zeit des Rákosi- und des
Kádár-Kommunismus.
Alles in allem geht es um das Leben und Sterben der Mutter, aber auch
des Vaters
und dessen Gefoltertwerden von der Stasi in der Nachkriegszeit. Der
Autor
berichtet von der politischen Enge, Unfreiheit und Angst der Ungarn in
den 1950ern
und der "einzigen" Freiheit durch das Spiel mit dem 21,5 cm
(Durchmesser) runden Lederball.
Doch keine stringente Handlung führt zielsicher zu einer
Pointe bzw. zum
kulminierenden Höhepunkt, sondern Esterházy
verlangt von seinem Leser
Intellekt und vor allem hochgradige Geistesgegenwart, um seinen
einfallsreichen,
kreativen, schillernden, delphischen, mitunter seitenlangen, durch
Klammereinschübe
noch zusätzlich irreführenden
Schachtelsätzen zu folgen und sie in ihrer
Gesamtheit überhaupt zu erfassen und zu verinnerlichen. Nicht
nur paralleles
Wahrnehmen wird hier vorausgesetzt, sondern eine Triade oder gar
vierspuriges
Denken sind von Vorteil, um sich nicht im Gewirr der Sätze und
Gedanken zu
verlieren. Von einer entspannenden Nachmittags- oder
Abendlektüre kann also bei
Weitem nicht ausgegangen werden, vielmehr gehört eine
gehörige Portion
Aktionismus und Willen dazu, sich aus diesem Wirrwarr zu befreien und
die
Bedeutung der Sprache, die über der der Handlung liegt,
herauszuschälen.
Zwei Sätze aus dem Buch, in denen Esterházy seine
Mutter bzw. seinen Vater
charakterisiert, können gleichfalls auf den gesamten Duktus
des Romans übertragen
werden: "Meine Mutter verfügte über die
seltene Gabe, die auch mit dem
Alter kaum blasser wurde, mal unerwartet, Verhüllungen
herunterreißend, mal
ausdauernd und leise steigernd aufdeckend, ununterbrochen: den Reichtum
der
Dinge aufzuzeigen." Der Vater: "Er klebte alles mit
Worten
voll. Nach dem Muster der Sexbesessenheit wurde er von der Wut des
Benennens
erfasst, streute die auf ihre
Benennung wartenden Dinge mit Synonymen
voll, er
redete und redete."
Fazit:
Ein postmodernes, fragmentarisches Puzzle, einen komplizierten
Flickenteppich
voller bizarrer Muster, die allesamt Gedanken und Geschichten
enthalten, die in
den 1950er-Jahren des kommunistischen Ungarns angesiedelt sind, ein
rastloses,
multiples, schwindelerregendes Erinnern und Reflektieren ohne Struktur
breitet Péter
Esterházy in seinem Roman vor dem Leser aus. "Keine Kunst"
ist
zweifelsohne höchst kunstvoll. Dessen vertrackte Wortspiele
hat Terézia Mora fantasievoll
und kühn ins Deutsche übersetzt. Ob man jedoch die
zahlreichen kleinen Perlen
unter der "Kompliziertheit" findet oder besser genießen kann,
bleibt
fraglich. Vielleicht beim zweiten oder dritten Lesen.
(Heike Geilen; 07/2009)
Péter
Esterházy: "Keine Kunst"
(Originaltitel "Semmi müvészet")
Aus dem Ungarischen von Terézia Mora.
Berlin Verlag, 2009. 253 Seiten.
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Noch
ein Buchtipp:
Christoph Wagner: "Esterházy Kochbuch. Pannonische
Köstlichkeiten und fürstliche
Weine ausgewählt von Christoph Wagner"
Schon seit Jahrhunderten prägt das Fürstenhaus
Esterházy die wirtschaftliche und kulturelle Entwicklung im
pannonischen Raum.
Neben der Liebe zur Kunst waren die Fürsten auch dem Genuss
sehr zugetan und
legten ganz besonderen Wert auf eine opulente Hofhaltung, kreative
Küche und
auserlesene Weine. Viele der Rezepte, vom
Esterházy-Rostbraten bis zur
Esterházy-Torte,
sind heute Klassiker der österreichischen Küche. Und
auch so manches Werk des
Hofkapellmeisters
Joseph Haydn wurde von den dargebotenen
Köstlichkeiten
inspiriert. (loewenzahn verlag)
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