Memduh Sevket Esendal: "Die Mieter des Herrn A."


Mit Memduh Sevket Esendals 1934 erstveröffentlichtem Roman "Die Mieter des Herrn A." und dieser Erstveröffentlichung in deutscher Sprache ist die bewundernswerte "Türkische Bibliothek" des Unionsverlages um einen wirklich großartigen Beitrag reicher.

"Wir leben auf einer Etage in einem neu errichteten Apartmenthaus, die ein gewisser Ayasli Ibrahim Efendi angemietet hat und zimmerweise weitervermietet. Neun Zimmer liegen hintereinander zu beiden Seiten eines ziemlich dunklen Flures. Am Ende des Korridors befinden sich ein Badezimmer und eine Küche. Mein Zimmer ist gleich rechts, wenn man den Gang betritt."

Mit diesen Worten beginnt die Erzählung des jungen Bankangestellten, der sich soeben von den Ehestreitereien seiner früheren Vermieter gelöst hat und auf ein ruhiges Leben in der neuen Wohnung freut. Memduh Sevket Esendal lässt sich knapp hundert Seiten Zeit, um alle Mieter dieser Riesenwohnung vorzustellen. Hundert kurzweilige, fesselnde Seiten, die herrlich schräge Typen, leidenschaftliche und freizügige Frauen, traditionell zurückhaltende Frauen, Kleinganoven, Opiumhändler, spielsüchtige, ihr Kind vernachlässigende Eltern und ehrliche Männer vorstellen, bevor der Autor die Geschichte dann entwickelt und spannend dem Ende zutreibt.

Hatte der Ich-Erzähler auf ein ruhiges Leben gehofft, so ist er nun Mittelpunkt und Achse in dieser vermeintlich symbolisch als Mikrokosmos für das Gesellschaftsbild des damaligen Ankara stehenden Wohngemeinschaft. Immer weiter in die Geschehnisse hineingezogen, wird er von frivolen Dienstmädchen und arbeitssuchenden jungen Damen umgarnt, von Turan Hanim, der Frau des ruhigen Haki und leidenschaftlichen Spielerin, letztlich zum Glücksspiel und erotisch verführt (die erotische Verführung vom Gatten der Dame geduldet).

Moralische Stützen sind ihm durchgehend der um viele Jahre ältere Hasan Bey, der vor Jahren ein guter Freund des ältesten Bruders des Ich-Erzählers war, sowie der befreundete junge Arzt Fahri.

Als Hasan Bey an einem Herzinfarkt zu sterben droht, lernt er im Krankenzimmer Hasan Beys Tochter Selime kennen und verliebt sich langsam in sie. Beeindruckend, wie Memduh Sevket Esendal hier dem Leser die aufkeimende Liebe zeigt, während der Ich-Erzähler und sich verliebende junge Mann diese Gefühle scheinbar noch gar nicht registriert hat. Mit dem Erscheinen Selimes bewegt sich der Roman zum ersten Mal deutlich aus der Wohnung heraus und erlaubt zusätzliche Schauplätze. Neue Perspektiven eröffnen sich dem Protagonisten, er löst sich von Turan, wächst als Persönlichkeit und durchlebt die Entwicklung zu einem gefestigten, integren jungen Mann.

Ein kurzes Intermezzo ist spät im Roman noch eine kriminalistische Geschichte, die kopflose Leiche eines Mieters der Wohnung, sowie die Verhaftung des Opiumhändlers; Momente der Würze, ohne besondere Beleuchtung und in der Funktion als neues Element vor der Coda einfach perfekt.

Danach ist die Bühne frei für das zärtliche Aufblühen der Liebe Selimes und des Ich-Erzählers sowie die Hochzeit der beiden.

Großartige Figurenzeichnung und eine Schar von Protagonisten, die, man vergesse nicht, dass die Handlung in den frühen Tagen der neuen Republik spielt, berauschend modern und offen sind. Der Autor schenkt uns Protagonisten, die das Bild, das man unter Umständen von der Türkei in den Jahren nach der Gründung der Republik hat, gründlich revidiert, und einen Ich-Erzähler, der sich vehement für das Recht auf Arbeit und die Gleichberechtigung von Frauen und Männern einsetzt.

" Finden Sie es richtig, wenn Frauen arbeiten?"
"Das hängt von der Lage ab und vom Menschen."
"Also eine Frau in meiner Lage, sollte die arbeiten?"
...
"Auch wenn sie arbeitet, so bleibt sie doch Frau. Und sie verhält sich auch weiterhin wie eine Frau."
"Bleibt sie das? Wie soll sich eine Frau, wenn sie arbeitet, um ihre Familie, um ihre Wohnung kümmern? Ob sie’s will oder nicht, sie wird versuchen, kein Kind zu bekommen ..."
"Wenn ich eine Frau wäre, ich würde es anstreben, meinen Lebensunterhalt selbst zu verdienen und mit dem Mann meiner Wahl zusammenzuleben!"
"Sie sind eben keine Frau ..."

Worte, die wahrscheinlich nicht nur in der Türkei von 1934 mutig waren.

"Die Mieter des Herrn A." ist ein schillerndes, buntes Gesellschaftsbild; ein Kaleidoskop des damaligen Ankaras, ein Bild einer Gesellschaft im Wandel und ein stimmiges Sittenbild, konzentriert und im kleinen Rahmen der Mietwohnung des Herrn Ayasli vereint.

Glasklare Prosa, die auch in den zärtlichsten Szenen nie kitschig ist, und Szenen, die man einfach aus schierer Lesefreude mehrfach liest, zeigen, welche Entdeckung wir mit dieser späten (und blendend übersetzten) Erstveröffentlichung in deutscher Sprache hier vor uns haben. Der 1883 in Çorlu geborene und 1952 gestorbene Memduh Sevket Esendal, der Zeit seines Lebens in parteipolitischen Ämtern, als Diplomat und als Journalist gewirkt hat, der Russisch und Persisch im Selbststudium erlernt hat, wird hoffentlich auch international endlich die Bedeutung erfahren, die ihm gebührt. Das ist Literatur, die auf einer Höhe mit den besten Autoren seiner Zeit steht und verdient zur wichtigsten und besten Literatur der Türkei zählt.

Ein großes Lob an den Unionsverlag für diese Entdeckung, an das ich gleich unverschämt die Bitte anhänge, die restlichen Werke (weitere zwei Romane und eine unbekannte Anzahl Erzählungen) Memduh Sevket Esendals bald folgen zu lassen.

Absolute Empfehlung.

(Roland Freisitzer; 08/2009)


Memduh Sevket Esendal: "Die Mieter des Herrn A."
(Originaltitel "Ayaslı ile Kiracıları")
Aus dem Türkischen von Carl Koß.
Nachwort von Monika Carbe.
Unionsverlag, Türkische Bibliothek, 2009. 282 Seiten.
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