Delphine de Vigan: "No & ich"
Lou
ist dreizehn Jahre alt und hochintelligent. Das macht zwar einiges
leichter, aber auch etliches schwerer. Lou denkt immer und
überall über alles Mögliche nach, kann nicht
abschalten, wird von Anderen als ein wenig kauzig angesehen. Letzteres
liegt nicht daran, dass Lou das wäre, was man eine Streberin
nennt, doch sie hat einige Klassen übersprungen und ist sehr
still und schüchtern. Zu all diesen Widrigkeiten gesellt sich
nun auch noch die Pubertät, in der Lou sich noch mehr Gedanken
als sonst macht, und sie muss sich mit ihrem Elternhaus arrangieren,
was vor allem wegen ihrer an Depression leidenden Mutter nicht ganz so
einfach ist.
Eines Tages lässt sich Lou von einem Lehrer dazu
bringen, ein Referat zu übernehmen, und ohne darüber
nachzudenken behauptet sie, ein Referat über obdachlose Frauen
halten zu wollen und zu diesem Zweck auch bereits die Erlaubnis einer
jungen obdachlosen Frau zum Interview erhalten zu haben. Der Lehrer ist
beeindruckt - und Lou verzweifelt, denn tatsächlich hat sie
all das nur erfunden.
Dann macht Lou die Bekanntschaft von No, die tatsächlich noch
jung ist und auch obdachlos, und sie fragt No schließlich, ob
diese zum Interview bereit wäre. No stimmt zu und
ermöglicht Lou damit deren Referat, doch nach Abschluss des
Referats ist Lou nicht bereit, es darauf beruhen zu lassen. Sie will No
ins Leben zurückholen, ein Stück weit die Welt
verändern und tritt in Aktion.
Im Grunde könnte man "No & Ich" als
problemorientiertes Jugendbuch gelten lassen, wären da nicht
einige Besonderheiten, die den Titel eher zu einem Roman für
Erwachsene machen. Da ist Lous
Hochbegabung, die ihrem Charakter trotz
der pubertierenden, unsicheren Art etwas Abgeklärtes und
Altkluges verleiht und Lou die Welt zu einem großen Teil aus
sehr erwachsenen Augen sehen lässt. Die
Depression
von Lous
Mutter und deren Ursprünge sowie Auswirkungen auf das
Familienleben sind ebenfalls ein wenig zu ernst, als dass sie
für Jugendliche formuliert wären, und zuletzt
skizziert die Autorin eine sehr realistisch anmutende Szenerie rund um
No und Lou, die sich in dieser Form ebenfalls eher nicht in einem
Jugendbuch finden ließ.
Mit ihrem Roman gelingt es de Vigan aufgrund ihrer Mischung
unterschiedlicher Themen nicht nur, Spannung aufzubauen und aufrecht zu
erhalten, sondern auch, ihre erwachsenen Leser regelrecht
gefangenzunehmen. Man erlebt den Zauber der eigenen Jugend noch einmal,
erinnert sich an die Schwierigkeiten, über die man aus weiter
zeitlicher Ferne heute meist lächeln kann, erinnert sich aber
ebenso an das Gefühl, die Welt retten zu können, sie
vielleicht gar retten zu müssen, und all das legt einen Hauch
Nostalgie über das Leseerlebnis.
Besonders gelungen ist "No & Ich", weil die Themen
Pubertät und Obdachlosigkeit ebenbürtig auftreten,
auch wenn No keine wirkliche Hauptperson des Buches ist. Doch die
Autorin nutzt das Thema der Obdachlosigkeit nicht einfach, um eine
Motivation für ihre Protagonistin zu erschaffen, sondern hat
einen fließenden, glaubwürdigen Übergang
kreiert. Sie zeigt dem Leser den Ernst der Lage auf, was
Obdachlosigkeit betrifft, und doch verzichtet sie auf Kitsch und den
moralisch erhobenen Zeigefinger.
Und so ist dieser Roman letztlich ein Lesevergnügen ohne Reue,
kurzweilig, traurig und rührend zugleich.
(Tanja Thome; 03/2009)
Delphine de Vigan: "No & ich"
(Originaltitel "No et Moi")
Übersetzt von Doris Heinemann.
Gebundene Ausgabe:
Droemer, 2009. 250 Seiten.
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Taschenbuchausgabe:
Knaur, 2010.
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Delphine de Vigan wurde 1966 in Paris geboren. Sie arbeitet tagsüber für ein soziologisches Forschungsinstitut und schreibt nachts, wenn alle schlafen, ihre Romane. "No & ich", ihr dritter Roman, wurde in elf Sprachen übersetzt und vielfach ausgezeichnet (u.a. mit dem "Prix des libraires 2008" und dem "Prix Rotary International 2008").
Leseprobe:
"Mademoiselle Bertignac, ich vermisse Ihren Namen auf der
Referatsliste."
Monsieur Marin fasst mich von ferne ins Auge, mit erhobener Braue und
entspannt
auf dem Schreibtisch liegenden Händen. Ich habe seinen
Langstreckenradar nicht
bedacht. Ich habe auf Aufschub gehofft und werde nun in flagranti
erwischt. Fünfundzwanzig
Augenpaare sind auf mich gerichtet und erwarten eine Antwort. Das Hirn
wurde bei
einem Fehltritt ertappt. Axelle Vernoux und Léa Germain
kichern lautlos hinter
vorgehaltener Hand, ein Dutzend freudig klingelnder Armbänder
an ihren
Handgelenken. Wenn ich hundert Kilometer tief unter der
Erdoberfläche
verschwinden könnte, irgendwo in der Lithosphäre, das
wäre mir jetzt eine
echte Hilfe. Ich habe einen Horror vor Referaten, ich habe einen Horror
davor,
vor der Klasse zu sprechen, vor mir tut sich die Erde auf, doch nichts
rührt
sich, nichts bricht in sich zusammen, am liebsten würde ich
ohnmächtig, hier
und jetzt, wie vom Blitz gefällt würde ich in meiner
vollen Kürze
hinschlagen, umgeben von einem Fächer aus Turnschuhen, mit
ausgebreiteten
Armen, und Monsieur Marin würde an die Tafel schreiben: "Hier
ruht Lou
Bertignac, die stumme, asoziale Klassenbeste."
"... Ich wollte mich gerade eintragen."
"Schön. Und mit welchem Thema?"
"Die Obdachlosen."
"Das ist ein wenig allgemein, könnten Sie das
präzisieren?"
Lucas lächelt mir zu. Seine Augen sind riesig, ich
könnte darin ertrinken,
darin verschwinden, oder ich könnte Monsieur Marin samt der
ganzen Klasse von
der Stille verschlucken lassen, ich könnte meinen
Eastpak-Rucksack nehmen und
wortlos hinausgehen, wie Lucas es so gut kann. Ich könnte mich
entschuldigen
und zugeben, dass ich keine Ahnung habe, ich habe das nur so gesagt,
ich denke
noch mal drüber nach, und nach der Stunde würde ich
zu Monsieur Marin gehen
und erklären, dass ich das nicht kann, ein Referat vor der
ganzen Klasse zu
halten, das übersteigt einfach meine Kräfte, tut mir
wirklich leid, ich würde
notfalls ein ärztliches Attest beibringen, krankhafte
Unfähigkeit zu Referaten
aller Art, mit Stempel und allem Drum und Dran, dann wäre ich
davon befreit.
Doch Lucas sieht mich an, und mir ist klar, dass er erwartet, mir werde
etwas
einfallen, er ist auf meiner Seite, er denkt, ein Mädchen wie
ich könne sich
nicht vor dreißig Mitschülern lächerlich
machen, er hat die Hand zur Faust
geballt, es fehlt nicht viel, und er schwingt sie über seinem
Kopf wie die
Fans, die im Stadion die Fußballspieler anfeuern, doch
plötzlich wird die
Stille lastend, man fühlt sich wie in der Kirche.
"Ich werde den Weg einer obdachlosen jungen Frau beschreiben, ihr
Leben,
also ... ihre Geschichte. Ich meine ... wie sie auf der
Straße gelandet ist."
Ein Beben geht durch die Reihen, man hört Getuschel.
"Sehr gut. Das ist ein schönes Thema. Jedes Jahr werden mehr
obdachlose
Frauen registriert, und sie werden immer jünger. Auf welche
Dokumente und
Quellen wollen Sie sich dabei stützen, Mademoiselle Bertignac?"
Ich habe nichts mehr zu verlieren. Oder so viel, dass es sich an den
Fingern
einer Hand nicht abzählen lässt, nicht einmal an den
Fingern von zehn Händen,
es geht gegen unendlich.
"Den ... den Erlebnisbericht. Ich werde eine junge Obdachlose
interviewen.
Gestern haben wir uns getroffen, sie ist einverstanden."
Andächtige Stille.
Monsieur Marin notiert auf seinem rosa Blatt meinen Namen und mein
Referatthema,
ich trage Sie für den 10. Dezember ein, dann haben Sie genug
Zeit für zusätzliche
Recherchen, er erinnert noch an ein paar allgemeine Regeln, nicht
länger als
eine Stunde, eine sozioökonomische Untersuchung, Beispiele,
seine Stimme wird
leiser, Lucas' Faust hat sich geöffnet, ich habe durchsichtige
Flügel, ich
schwebe über den Tischen, ich schließe die Augen,
ich bin ein winziges
Staubkorn, ein unsichtbares Partikel, seufzerleicht. Es klingelt.
Monsieur Marin
erlaubt uns, den Klassenraum zu verlassen, ich räume meine
Sachen zusammen und
ziehe meine Jacke über, da spricht er mich an. "Mademoiselle
Bertignac,
auf ein Wort noch."
Das war's dann wohl mit der Pause. Den Streich hat er mir schon einmal
gespielt.
In seiner persönlichen Zählung steht ein Wort
für Tausende. Die anderen trödeln
herum, sie sind neugierig. Inzwischen sehe ich auf meine
Füße, mein Schnürsenkel
ist offen, wie gewöhnlich. Wie kommt es, dass ich mit meinem
IQ von 160 zu blöd
bin, mir die Schuhe zuzubinden? "Passen Sie bei diesem Interview auf
sich
auf. Dass Sie nicht an die Falschen geraten. Vielleicht sollten Ihre
Mutter oder
Ihr Vater mitgehen."
"Keine Sorge. Das ist alles geregelt."
Meine Mutter verlässt die Wohnung schon seit Jahren nicht
mehr, und mein Vater
weint heimlich im Badezimmer. Das hätte ich ihm sagen sollen.
Dann hätte mich
Monsieur Marin endgültig von der Liste gestrichen. Dienstags
und freitags, wenn
ich früher aus der Schule komme, gehe ich oft zur Gare
d'Austerlitz. Ich gehe
hin und sehe mir die abfahrenden Züge an, wegen der
Gefühlsbewegungen, die
beobachte ich nämlich gern, die Gefühle anderer
Leute, deshalb verpasse ich im
Fernsehen auch kein Fußballspiel, ich liebe es, wenn sich die
Leute nach einem
Tor umarmen, sie rennen mit hochgestreckten Armen herum und umhalsen
sich, und
auch in Wer wird Millionär?: Man muss die Mädchen nur
sehen, wenn sie die
richtige Antwort gegeben haben, sie halten sich die Hände vor
den Mund, werfen
den Kopf in den Nacken, stoßen Schreie aus und so, und dabei
stehen ihnen dicke
Tränen in den Augen. Auf den Bahnhöfen ist es anders,
die Gefühle lassen sich
aus den Blicken erraten, aus den Gesten und Bewegungen, da trennen sich
Liebespaare,
Großmütter reisen wieder ab, Damen in
weiten Mänteln lassen
Herren mit hochgeschlagenen Kragen zurück oder umgekehrt, und
ich beobachte
diese Leute, die fortgehen, man weiß weder wohin noch warum,
noch für wie
lange, durch die Scheibe hindurch verabschieden sie sich, sie winken
diskret
oder rufen laut, obwohl man sie sowieso nicht hören kann.
Mit ein wenig Glück erlebt man echte Trennungen, ich meine,
dann spürt man
deutlich, es wird lange dauern, oder es wird den Betreffenden lange
vorkommen
(was auf dasselbe hinausläuft), dann sind die Gefühle
sehr dicht, es ist, als
würde die Luft dicker, als wären sie allein und
ringsum wäre niemand. Bei den
ankommenden Zügen ist es genauso, ich stelle mich ans Ende des
Bahnsteigs und
beobachte die Wartenden, ihr angespanntes, ungeduldiges Gesicht, die
suchenden
Augen und dann plötzlich dieses Lächeln auf ihren
Lippen, den erhobenen Arm,
ihr Winken, während sie loslaufen, um sich in die Arme zu
fallen - dieser Überschwang,
das ist es, was ich am allerliebsten mag.
Kurzum, deshalb war ich auf der Gare d'Austerlitz. Ich wartete auf die
Ankunft
des TER um 16 Uhr 44 aus Clermont-Ferrand, der ist mein Lieblingszug,
aus dem
kommen alle möglichen Leute, Junge, Alte, gut Gekleidete,
Dicke, Magere, schäbig
Gekleidete, einfach alles.
Irgendwann merkte ich, dass mir jemand auf die Schulter klopfte, ich
brauchte
eine Weile, denn ich war sehr konzentriert, und in einem solchen Fall
könnte
sich ein Mammut
auf meinen Turnschuhen wälzen, ich würde nichts
merken. Ich drehte mich um.
"Hast du mal ’ne Fluppe?"
Sie trug eine schmutzige Khaki-Hose, einen alten Blouson mit
durchgescheuerten
Ellbogen und einen Benetton-Schal, genauso einen wie den, den meine
Mutter zur
Erinnerung an ihre Jugend ganz hinten im Kleiderschrank aufbewahrt.
"Nein, tut mir leid, ich rauche nicht. Aber ich habe
Pfefferminz-Kaugummis, wenn Sie möchten."
Sie verzog den Mund, dann streckte sie die Hand aus, ich gab ihr das
Päckchen,
und sie stopfte es in ihre Tasche.
"Salut, ich heiße No. Und du?"
"No?"
"Ja."
"Und ich Lou ... Lou Bertignac." (Normalerweise hat das eine gewisse
Wirkung, weil die Leute glauben, ich sei mit dem Sänger
verwandt, vielleicht
sogar seine Tochter. Einmal, auf dem collège, habe ich auch
so getan als ob,
aber dann wurde es schwierig, ich sollte Einzelheiten
erzählen, Autogramme
besorgen und so, schließlich musste ich doch mit der Wahrheit
rausrücken.)
Es schien sie nicht zu beeindrucken. Ich dachte, es sei vielleicht
nicht die
Sorte Musik, die sie mochte. Sie ging zu einem Mann, der einige Meter
entfernt
stand und Zeitung las. Er verdrehte seufzend die Augen und zog eine
Zigarette
aus seiner Schachtel, sie griff danach, ohne ihn anzusehen, und kam
dann zu mir
zurück.
"Ich hab dich hier schon öfter gesehen. Was machst du hier?"
"Ich komme, um mir die Leute anzusehen."
"Ach. Und bei dir zu Hause gibt's keine Leute?"
"Doch, aber das ist nicht dasselbe."
"Wie alt bist du?"
"Dreizehn."
"Du hast nicht zufällig zwei, drei Euro? Ich hab seit gestern
Abend nichts
gegessen."
Ich suchte in meinen Hosentaschen, es waren noch ein paar
Münzen da, ich sah
sie gar nicht an, sondern gab sie ihr alle. Sie zählte sie,
bevor sie die Hand
schloss.
"In welche Klasse gehst du?"
"In die Zehnte."
"Das ist doch nicht normal für dein Alter."
"Äh ... nein. Ich hab zwei Klassen Vorsprung."
"Und wie kommt das?"
"Ich hab Klassen übersprungen."
"Das hab ich verstanden, aber wie kommt es, dass du zwei Klassen
übersprungen
hast, Lou?"
Ich fand, dass sie irgendwie komisch mit mir redete, ich fragte mich
schon, ob
sie sich nicht über mich lustig machte, aber sie wirkte
zugleich sehr ernst und
sehr irritiert.
"Ich weiß auch nicht. Ich hab schon im Kindergarten lesen
gelernt, also
brauchte ich nicht in die erste Klasse zu gehen, und dann hab ich die
vierte
Klasse übersprungen. Ich hab mich nämlich so
gelangweilt, dass ich mir die
Haare um den Finger wickelte und den ganzen Tag daran zog. Nach einigen
Wochen
hatte ich eine kahle Stelle. Nach der dritten kahlen Stelle wurde ich
in die nächste
Klasse versetzt."
Ich hätte ihr auch gern Fragen gestellt, aber ich war zu
eingeschüchtert, sie
rauchte ihre Zigarette und musterte mich von oben bis unten, als suche
sie nach
etwas, was ich ihr geben könnte. Es war still geworden
(zwischen uns, meine
ich, ansonsten brüllte uns die synthetische Stimme aus den
Lautsprechern in die
Ohren), daher fühlte ich mich zu dem Zusatz
bemüßigt, es sei jetzt besser
geworden.
"Was ist besser geworden, die
Haare
oder die Langeweile?"
"Öm ... beides."
Sie lachte.
Da sah ich, dass ihr ein Zahn fehlte, und ich brauchte nicht einmal
eine
Zehntelsekunde für die richtige Antwort: ein Prämolar.
Mein ganzes Leben lang habe ich mich außerhalb
gefühlt, wo auch immer, außerhalb
des Bilds, außerhalb des Gesprächs, neben der
Situation, als könnte ich als
Einzige Geräusche oder Worte hören, die die anderen
nicht wahrnehmen, wäre
dabei aber taub für die Worte, die die anderen anscheinend
hören, als wäre
ich außerhalb des Rahmens oder auf der anderen Seite einer
riesigen
unsichtbaren Glaswand.
Aber gestern war ich dabei, bei ihr, ich bin sicher, man hätte
einen Kreis um
uns ziehen können, einen Kreis, aus dem ich nicht
ausgeschlossen gewesen wäre,
einen Kreis, der uns beide umfing und uns für einige Minuten
vor der Welt schützte.
Ich konnte nicht länger bleiben, mein Vater wartete auf mich,
doch ich wusste
nicht, wie ich mich von ihr verabschieden sollte, ob ich sie mit Madame
oder
Mademoiselle anreden sollte oder einfach mit No, ich kannte ja ihren
Vornamen.
Ich löste das Problem mit einem einfachen au revoir, denn ich
dachte mir, sie
gehöre schon nicht zu den Leuten, die sich über
schlechte Manieren und all den
anderen Kram aufregen, den man im gesellschaftlichen Verkehr beachten
muss. Ich
drehte mich noch einmal um und winkte ihr kurz zu, und sie stand da und
sah mir
nach, es tat mir weh, denn schon an ihrem Blick, an der Leere ihres
Blicks,
erkannte man, dass sie niemanden hatte, der auf sie wartete, kein
Zuhause,
keinen Computer und vielleicht auch keinen Ort, an den sie gehen
konnte. Beim
Abendessen fragte ich meine Mutter, wie es komme, dass noch
ganze junge
Mädchen
schon auf der Straße lebten, und sie antwortete seufzend, so
sei das Leben nun
einmal: ungerecht. Ausnahmsweise hakte ich nicht nach, obwohl die
ersten
Antworten häufig Ausweichmanöver sind, das
weiß ich schon lange.
Ich sah wieder ihre Blässe vor mir, ihre durch die Magerkeit
vergrößerten
Augen, die Farbe ihres Haars, ihren rosafarbenen Schal, und stellte mir
unter
der dicken Schicht ihrer drei Blousons ein Geheimnis vor, ein
Geheimnis, das wie
ein Stachel in ihrem Herzen steckte und das sie noch niemandem verraten
hatte.
Ich wäre gern bei ihr gewesen. Mit ihr zusammen. Ich lag in
meinem Bett und
bedauerte, dass ich sie nicht nach ihrem Alter gefragt hatte. Sie hatte
so jung
ausgesehen.
Und zugleich hatte ich den Eindruck gehabt, sie kenne das Leben
wirklich, oder
vielmehr, sie kenne etwas vom Leben, das einem Angst macht. (...)