Susanne Schädlich: "Immer wieder Dezember"

Der Westen, die Stasi, der Onkel und ich


Für viele Zeitgenossen ist es nur noch Bestandteil des Geschichtsunterrichts, dass es einmal zwei deutsche Staaten gab und die Menschen durch eine Mauer voneinander getrennt waren. Diese Mauer existierte einmal aus Stahlbeton an den Grenzlinien und dann mehr und mehr auch in den Köpfen und Herzen, erbaut aus unterschiedlichen Erfahrungen und Ideologien.

Susanne Schädlich verbrachte dreizehn Jahre ihres Lebens auf "der anderen Seite", bis ihrem Vater Hans Joachim Schädlich, einempolitisch aktiven Schriftsteller, dringend empfohlen wurde, die DDR zu verlassen. Unter den Augen der Staatssicherheit, und beschleunigt durch deren aktivere Dienste, begab sich ein Teil der Familie Schädlich im Dezember des Jahres 1977 auf den Weg in die BRD und ließ dabei unter Anderem Susannes Bruder und auch den Bruder ihres Vaters zurück. Während der Kontakt zu Ersterem schnell einschlief, hörte man vom Onkel immer wieder etwas.

Die Familie versucht sich im anderen Deutschland einzugewöhnen, in dem Einiges sehr ähnlich ist, aber eine ganze Menge grundlegend anders. Im Unterscheid zu vielen anderen Auswanderern - gerade in Berlin - gehen die Schädlichs nicht zu einem jener psychologisch geschulten Spezialisten, die früher besonders Flüchtlingen geholfen haben, sich im "freieren" Deutschland einzugewöhnen. Denn plötzliche Freiheit ist nicht leicht zu ertragen, hat man sie vorher nie gekannt. Zwischen Ost und West innerlich hin und her gerissen erlebt die junge Susanne die Probleme der Fortgegangenen und hört gleichzeitig immer wieder den Neid der Zurückgebliebenen - besonders bei Telefonaten oder Besuchen bei ihrem Onkel, der ihr in dieser Lebensphase oft behilflich ist - wie auch dem Rest der Familie. Doch erst im nichtdeutschen Ausland kann sie aufgrund der Distanz tatsächlich zu sich selbst finden.

Die Nachricht vom Mauerfall erreicht sie in den USA. Von dort kehrt Susanne Schädlich nach Deutschland zurück und beginnt in den Stasi-Akten der Familie zu lesen, was ihr zunächst wegen der bewegten Schriftstellertätigkeit und dem damit verbundenen Austausch ihres Vaters mit anderen Literaturschaffenden interessant erscheint. Doch bald merkt sie, dass viele der Beobachtungen über diese Kreise und ihre Familie von ihrem Onkel kommen - und das Lesen der Stasi-Akten wird zum Gerüst für die Rekonstruktion - und Umkonstruktion - der eigenen Lebensgeschichte.

"Immer wieder Dezember" ist ein bedrückendes Buch über Verrat in der Familie, über das Leben in zwei deutschen Staaten, über das Erlernen von Freiheit und die deutsch-deutsche Literaturszene. Ein Buch, das diese Dinge wesentlich näher bringt als so manches Sachbuch zur Thematik - und das in sehr leisen Tönen.

(K.-G. Beck-Ewerhardy; 06/2009)


Susanne Schädlich: "Immer wieder Dezember. Der Westen, die Stasi, der Onkel und ich"
Droemer, 2009. 260 Seiten.
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Susanne Schädlich, geboren 1965 in Jena, ist literarisch tätig und arbeitet als freiberufliche Autorin, Journalistin und Übersetzerin aus dem Amerikanischen und Spanischen. Sie lebte elf Jahre in den USA; 1999 kehrte sie nach Berlin zurück.

Leseprobe:

Es war ein Montag, genauer gesagt, der 5. Dezember. Später Nachmittag. Schon dunkel. Vielleicht verregnet. Sicherlich kalt. Ich kam von der Musikschule. Stieg aus der Straßenbahn, überquerte die Mahlsdorfer Straße in die Genovevastraße. Links der Wald, rechts der Bürgersteig, spärliches Licht von einsamen Laternen. Ich war die einzige dort. Ich weiß nicht, ab wann, aber ab einem bestimmten Zeitpunkt rannte ich das Stück Genovevastraße bis zur Ecke Rotkäppchenstraße. Nicht aus Angst vor Geistern im Birkenwald. Nicht aus Angst vor dem Mörder, von dem wir Kinder uns erzählten. Erst im Herbst hatten zwei Freunde und ich auf dem Bordstein gesessen und uns ausgemalt, was tun, wenn ein Mann käme und uns Kekse anböte. Nicht annehmen natürlich. Ein Mann, der Kekse anbietet, ist ein Mörder.
Ein Mann kam die Straße entlang. Er hatte eine Packung Kekse in der Hand, aß. Wir blickten gierig. Er bot uns welche an. Zögernd schüttelten wir die Köpfe. Der Mann zuckte mit den Schultern und warf die Packung weg. Wir blickten ihm nach. Irgendwann stand ich auf, holte sie, setzte mich wieder zu meinen Freunden. Wir aßen sie alle. Und wir warteten darauf, an einer Vergiftung zu sterben.
Der Mann war kein Mörder.
Und die Männer, die nachts kamen, wenn die Eltern sich mit Freunden trafen? Das geschah in jener Zeit häufiger. Es gab viel zu besprechen.
Ich lag im Bett und wartete auf das Klingeln. Und es kam. Ich lief zum Wohnzimmerfenster, spähte aus der Dunkelheit hinunter auf die Straße. Da standen sie. Immer zu zweit. Trenchcoat und Hut. Sie klingelten noch einmal. Die Pforte war unverschlossen. Sie hätten die Klinke herunterdrücken können. Das taten sie nicht. Sie redeten. Sie sahen zu mir herauf. Lange. Ich wusste, sie wussten, dass wir alleine waren. Ich hielt ihren Blicken in der Dunkelheit stand. Den Eltern sagte ich nichts. Mit den Männern in Trenchcoats wurde ich alleine fertig.
An der Ecke Rotkäppchenstraße hörte ich zu rennen auf. Langsam, als sei nichts, ging ich zum Haus Nummer 5. Ich klingelte wie immer. Ich drückte die Pforte auf wie immer. Ich stieg die Treppe hoch wie immer. Die Mutter öffnete mir die Tür. Nicht wie immer. Wir gingen in ihr Arbeitszimmer, sie sagte: "Setz dich, ich muss dir etwas sagen." Ich setzte mich auf die weiße Liege mit der blauen Matratze. Die Mutter zog die Tür hinter sich zu: "Wir ziehen um. In den Westen, Samstag." Sie sagte nicht, warum. Das musste sie nicht. Ich wusste, es hatte mit den Schriftstellern zu tun, die über die letzten Jahre immer wieder zu uns gekommen waren, mit dem, was ein Jahr zuvor mit der Ausbürgerung Biermanns begonnen hatte, mit dem Buch des Vaters, das erst vor ein paar Monaten im anderen Teil Deutschlands erschienen war.
Der Westen! Meine Augen müssen geleuchtet haben. Das, was ich im Fernsehen gesehen hatte, sollte ich mit eigenen Augen sehen. Nicht warten müssen, bis ich Großmutter war. Das waren die ersten Gedanken. Dann: Was soll aus den Freunden werden? Was aus der Schule? Was mit unseren Sachen?
Samstag, das waren nur fünf Tage. Ich muss gefragt haben, ob ich noch zur Schule dürfe? Wie lange sie es schon wüssten? Ob Jan, der Bruder, es wisse? Was mit Großmama sei? Die Mutter wird mir die Fragen beantwortet haben.
Ich fragte noch: "Und unsere Katze?"
"Sie kann nicht mitkommen."
Ich fing an zu weinen.
"Du wirst wieder ein Kätzchen bekommen, das verspreche ich dir", sagte die Mutter. "Wenn wir erst drüben sind."
Ich muss ihr geglaubt haben.
"Jan kommt auch nicht mit."
Ich weinte mehr. Diesmal versprach die Mutter nichts.
Die Tränen sollte ich mir abwischen. Lächeln, damit der Bruder nichts merke. Er sei traurig genug.
Ich lächelte, als wir in das Arbeitszimmer des Vaters gingen, wo er dem Bruder Büchertitel in die Schreibmaschine diktierte. Es war ungewöhnlich, und doch fragte ich nicht, welchen Sinn es hatte. Das rhythmische Tippen, die sonore Stimme des Vaters beruhigten. Vielleicht verständigten sich Vater und Mutter mit einem Blick, damit die Arbeit nicht unterbrochen wurde. Sie weiß Bescheid, ich habe es ihr gesagt, der Satz in den Augen der Mutter. Vielleicht nickte der Vater, während er weiter Titel, Autor, Verlag, Erscheinungsdatum eines Buches vorlas. Der Bruder blickte nicht auf. Das weiß ich genau. Die Mutter verließ das Zimmer.
Ich blieb vor dem Stadtplan Berlins stehen, der an einem Regal befestigt war und ein paar Reihen Bücher versteckte. Die Hälfte des Plans war ein weißer Fleck. Als ich kleiner war, hatte ich oft davor gestanden und mich gefragt, warum die Stadt dort aufhörte. Ob Schnee dort läge. Bei einem Besuch auf dem Fernsehturm suchte ich das Weiß, das ich auf der Karte gesehen hatte. Ich sah Häuser und Bäume. Das Weiß sah ich nicht. "Das da hinten ist West-Berlin", hörte ich. "Dahin dürfen wir nicht." Das W auf dem Kompass. Dahin würden wir jetzt gehen.

Am Dienstag keine Schule mehr. Auch die nächsten Tage nicht. Ich sei eine Gefahr für die anderen, hieß es. Ich wollte die Freunde noch einmal sehen. Die Mutter rief in der Schule an. Nein, das komme nicht in Frage, sagte der Direktor. Dann ging es doch. Zur Turnstunde sollte ich kommen, in den Umkleideraum, fünf Minuten vor dem Unterricht. Das sollte reichen.
Verwunderung, als ich plötzlich dastand. Die beste Freundin fing an zu weinen. Aufgeregte Fragen von einigen. Feindseliges Schweigen von anderen. Ich verteilte mein Geld, ich brauchte es nicht mehr. Das meiste bekam die beste Freundin. Sie war die ärmste von allen, nicht nur, weil sie oft mit blauen Flecken in die Schule kam. Dafür hatten die Lehrer kein Auge. "Jetzt bin ich ganz allein", sagte sie. Ich gab zwei Poesiealben ab, eins für die Klassenkameraden, eins für meine Lehrer, für alle die, die noch nichts hineingeschrieben hatten. Das war’s. Ich sehe noch die schwarzen Turnhosen, die sie sich anzogen, die weißen Hemden. Der Umkleideraum leerte sich. Der Unterricht ging weiter. Ohne mich.
Ich übte nicht mehr Klarinette, wie ich es sonst jeden Nachmittag getan hatte. Ich lief allein durch die Grimmschen Straßen, wenn ich nicht mit dem Bruder die Bücherlisten schrieb. Er an der Schreibmaschine, weißes Blatt, Kohlepapier, Durchschlagpapier. Ich auf der Leiter. Regal für Regal. Tag für Tag, schweigend bis zum Buch Nr. 3541. Dann hörten wir auf und machten drei Punkte. Das war gegen die Anordnung, aber die sollten uns unsere Zeit nicht mehr stehlen.
Großmama aus Jena kam, kaufte ein, kochte. Sie war der Felsen in der Aufregung. Das gewohnte Leben in Köpenick, im Märchenviertel, war wie durch einen Zauberspruch vorbei. Unwirklich verflog die Zeit der letzten Tage. Jeder bewegte sich wie unter einer Glocke oder wie ferngesteuert.
Der Vater verließ früh das Haus und kam oft erst nachmittags zurück. Behördengänge. Die Mutter organisierte den Umzug vor. Ausmisten, sortieren, überlegen, bevor die Kisten geliefert wurden. Manchmal - wir fragten uns, ob sie wiederkämen - waren beide stundenlang fort.
Abends verwandelte sich die Wohnung in normale Lebhaftigkeit, wenn die Freunde der Eltern kamen und bis in die Nacht blieben, um sich in langen Gesprächen zu verabschieden. Auch der Onkel.
Der Kontakt war in den letzten Monaten sehr eng geworden. Er als Stütze für uns in der Aufbruchzeit und wir als Stütze für ihn, weil sie ihn, wie er glaubhaft versicherte, aus der Partei ausschließen wollten. Ständig Telefonate, viele Besuche, er kümmerte sich wie nie zuvor und erkundigte sich.
Wenn die Freunde kamen, lagen wir längst in unseren Betten. Schlaflos ich, meinen Gedanken überlassen. Das, was ein Zuhause, eine Heimat war, würde ein Zuhause, eine Heimat nicht mehr sein. Heimat. Ich weiß nicht, wie oft und zu wie vielen Anlässen wir als Schüler singen mussten: "Unsere Heimat, das sind nicht nur die Städte und Dörfer, unsere Heimat sind auch all die ... und die Vögel in der Luft." Ich kann es heute noch singen. "Und wir lieben die Heimat, die schöne, und wir schützen sie, weil sie dem Volke gehört, weil sie unserem Volke gehört." Was kümmerten mich Städte und Dörfer, Vögel in der Luft, die konnten fliegen, wohin immer sie wollten. Meine Heimat waren die Eltern und die Schwester, Großmama in Jena. Der Bruder, die Freunde. Dorthin gehörte ich.
Der Bruder war gefragt worden, ob er mitkommen wolle. Er war schon siebzehn, fast erwachsen. Er hatte nein gesagt, er bliebe, bei seiner Mutter, der ersten Frau des Vaters, in der Schule, bei seinen Freunden. Es war gar keine Frage. Das sagt er heute noch.
Ob ich auch hatte gefragt werden wollen, überlegte ich. Auch wenn ich gefragt worden wäre, es gab keine Wahl, weil die Wahl feststand, von vornherein und sowieso: Vater, Mutter, Schwester. Egal, zu welchem Buchstaben auf dem Kompass. Und die Klarinette? Drüben gab es auch Musikschulen. Und Großmama? Die konnte zu uns kommen, durfte reisen. Und die Cousins? Ich käme sie besuchen. Und die Freunde? Ich würde drüben neue finden. Als ob sie wie Pilze und Beeren in einem Märchenwald stünden. (...)

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