Marina Rumjanzewa: "Auf der Datscha"

Eine kleine Kulturgeschichte und ein Lesebuch


Über eine russische Institution im Wandel der Zeiten

Die Datscha hat in Russland eine lange Tradition und lässt sich mit dem mitteleuropäischen Wochenend- oder Ferienhaus oder mit einer Schrebergartenlaube nicht recht vergleichen. Welche Bedeutung der Datscha als regelrechter Institution zukommt, lässt sich daran erkennen, dass zahlreiche berühmte russische Schriftsteller aus verschiedenen Epochen ausgiebig über das Leben auf der Datscha geschrieben haben.

In ihrem Buch "Auf der Datscha" stellt Marina Rumjanzewa, eine in Moskau geborene und aufgewachsene, heute in der Schweiz lebende Journalistin und Autorin, zunächst die Geschichte des Datschenbaus und der Datschennutzung vor.

Der Leser erfährt, dass Zar Peter der Große im Grunde die Datschakultur einführte, indem er an der Straße zwischen St. Petersburg und seinem Sommerpalais Petergof (Peterhof) gleich große Grundstücksparzellen abmessen ließ und diese als Gunstbeweis seinen Höflingen zuteilte - mit der Auflage, sich dort Sommerresidenzen einzurichten.

Das Datschaleben zu jener Zeit mit seinen vielfältigen sozialen Verpflichtungen, aber auch Amouren und sonstigen Zerstreuungen, hat sich, wie die Lektüre zeigt, lange Zeit grundsätzlich wenig geändert, nur drängten bald breitere Schichten in neu errichtete Datschensiedlungen, häufig auch zur Miete, die sich wie ein Gürtel um die Städte auszubreiten begannen. Die Autorin schildert das anstrengende Leben des etwas belächelten "Datscha-Ehemannes", der nach der Arbeit Einkäufe erledigt und voll bepackt zur Datscha fährt, wo ihn Ehefrau und Kinder bereits erwarten. Oder auch nicht, wenn sie gerade diversen Vergnügungen (oder einer Datscha-Liebe) frönen oder das Haus vor eben einmal vorbeigekommenen Gästen schier aus allen Nähten platzt, sodass der "Datscha-Ehemann" in irgendeinem Winkel schlafen und am nächsten Morgen unausgeruht zur Arbeit aufbrechen muss.

Eine interessante Entwicklung nahm die Datschakultur während des Kommunismus, wie Marina Rumjanzewa zu vermitteln weiß - zu jener Zeit wurde die Zuteilung von Datschen beziehungsweise Datschen-Grundstücken an Günstlinge wieder aufgenommen, direkt an Peters des Großen Handlungsweise anknüpfend. Selbstverständlich erfährt der Leser auch, wie sich die Datscha im postkommunistischen Russland etabliert hat.

Der zweite Teil des Buchs besteht aus Datschengeschichten berühmter russischer Autoren, Puschkin, Dostojewski, Tschechow, Tolstoj, Tatjana Tolstaja, Schischkin und einiger im deutschen Sprachraum weniger bekannter Schriftsteller. Diese Erzählungen, in denen es um typische Datscha-Liebesabenteuer, nicht selten auch mehr oder weniger reine Stimmungsbilder, Kindheitserinnerungen und -abenteuer oder Satire geht, vermitteln einen unmittelbaren, oft humorvollen, manchmal auch melancholischen Blick auf die Datschakultur und bilden zugleich einen bezaubernden Querschnitt russischer Literatur. Manchen Schriftsteller lernt man von einer eher ungewohnten Seite kennen, während etwa Tschechows Werk viele Datschaszenen enthält. Einmal launig, dann wieder sentimental, einmal komisch, dann wieder sarkastisch stellen die Autoren ganz unterschiedliche Facetten des Lebens auf der Datscha vor.

Dank der vorangestellten Kulturgeschichte weiß der Leser diese kleinen literarischen Meisterwerke erst recht zu schätzen, denn natürlich lässt das so erworbene Hintergrundwissen Verständnis für manches Detail zu, das für Mitteleuropäer andernfalls "exotisch" wirken würde.

Und auch die Kulturgeschichte von Marina Rumjanzewa ist reizvoll zu lesen, da es der Autorin zwar primär auf Faktenvermittlung ankommt, sie aber zugleich auch unterhalten möchte, was ihr vorzüglich gelingt.
Als einziger Wermutstropfen ist der sehr geringe Schriftgrad zu nennen, der für Fußnoten akzeptabel wäre, aber nicht für ein Buch, das im Untertitel als "Lesebuch" bezeichnet wird; vor allem nicht mehr ganz junge potenzielle Leser dürfte dies abschrecken - vielleicht folgt ja eine Hörbuchedition. Ein schönes Extra wäre sicher ein Bilder- und Fotoblock zum Thema Datscha gewesen.

Insgesamt aber handelt es sich bei "Auf der Datscha" um ein sehr empfehlenswertes Buch, das unterhaltsam aufbereitetes Wissen mit großer Literatur verbindet und sicher nicht nur Russland-Fans begeistert!

(Regina Károlyi; 06/2009)


Marina Rumjanzewa: "Auf der Datscha. Eine kleine Kulturgeschichte und ein Lesebuch"
Dörlemann Verlag, 2009. 288 Seiten.
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Marina Rumjanzewa, 1958 in Moskau geboren und aufgewachsen. Germanistik-Studium an der Moskauer Linguistischen Universität. Danach Redakteurin der Presseagentur "Nowosti" und freie Autorin für Moskauer Zeitungen, Zeitschriften und für den 1. Kanal des Russischen Fernsehens. Seit 1992 lebt Marina Rumjanzewa in Zürich als freie Journalistin und Publizistin. Sie schreibt unter anderem für die "Süddeutsche Zeitung", die Zeitschrift "DU" und die "Neue Zürcher Zeitung". Außerdem macht sie Beiträge für "Kulturzeit" auf "3sat" und "Kulturplatz" im Schweizer Fernsehen. Marina Rumjanzewa schreibt auf Deutsch. Sie lebt in Zürich.