Dalai Lama: "Mein Leben in Bildern"
Unter Mitarbeit von Claudine Vernier-Palliez und Matthieu Ricard
"Man hat Tibet als das
religiöseste Land der Welt bezeichnet. Ich kann nicht beurteilen, ob das
richtig ist oder nicht, aber eines ist sicher: Jeder Tibeter misst dem
spirituellen Leben die gleiche Bedeutung bei wie dem materiellen."
(Dalai Lama)
Am 10. März 2009 jährte sich der Tibetaufstand in Lhasa zum 50. Mal. In vielen
Städten wurden weltweit für diesen Tag Friedensmärsche organisiert. Ich habe
mich an jenem in Wien beteiligt, der vor der chinesischen Botschaft seinen
Anfang nahm. Die in Wien lebenden Exil-Tibeter sowie solidarische Mitmenschen
versammelten sich, und das Läuten der Wecker um 16 Uhr sollte an die
schreckliche Situation der tibetischen Bevölkerung sowie an den Volksaufstand
der Tibeter erinnern, dem zehntausende Tibeter zum Opfer fielen. Der
Schweigemarsch verlief wie erwartet ohne Komplikationen.
Das Besondere am vorliegenden Buch ist, dass darin zahlreiche persönliche Texte
des Dalai
Lama enthalten sind, die einen Einblick in die tief in der tibetischen
Kultur verwurzelte Identität dieser höchsten religiösen Autorität Tibets
geben. Er erinnert sich an seine Kindheit, als er schon sehr früh von Mönchen
aufgefunden wurde, welche von besonderen Zeichen rund um die Geburt von Tenzin
Gyatso gehört hatten. Doch so sehr seine äußere Geschichte zu beeindrucken
vermag, ist es in erster Linie seine innere Geschichte, an der er die Leser
teilhaben lässt.
Der Tagesablauf wird von ihm - so gut es geht - streng eingehalten. Er steht
jeden Tag spätestens um vier Uhr früh auf und meditiert bis sechs Uhr, um dann
sein Frühstück einzunehmen. Es ist ihm wichtig, täglich zumindest fünfeinhalb
Stunden für Gebet, Studium und Meditation zu reservieren. Täglich geht er
sechs oder sieben Mal durch die Phasen des Todes. Diese bei den Buddhisten gängige
Übung ist von großer Bedeutung, weil es wichtig ist, zu lernen, was der
Sterbevorgang ist und sich darauf vorzubereiten. Gegen neun Uhr geht er in sein
Büro, sofern er Termine hat. Ansonsten arbeitet er an seinen Texten und beschäftigt
sich intensiv mit Kommentaren großer Meister verschiedener Schulen des
tibetischen Buddhismus. Dann isst er gegen 14 Uhr zu Mittag und beschäftigt
sich danach bis 17 Uhr mit laufenden Geschäften. Er trifft gewählte Vertreter
des tibetischen Volkes, Minister der Exilregierung und empfängt Besucher. Gegen
18 Uhr trinkt er Tee und knabbert, nicht ohne vorher den Buddha um Erlaubnis zu
fragen, ein paar Biskuits. Danach spricht er seine Abendgebete und schläft
gegen 21 Uhr ein, um für den kommenden Tag, der wiederum spätestens um vier
Uhr morgens beginnt, gerüstet zu sein.
Dieser Einblick in den Tagesablauf eines tiefreligiösen Mannes ist die temporäre
Fläche der inneren Geschichte des Dalai Lama. Einige seiner Texte vermögen es,
die Seele des Lesers intensiv zu berühren, wenn er über sie reflektiert. Schon
im Vorwort schreibt
Matthieu
Ricard im Sinne des Dalai Lama von der Bedeutung des Geistes, der die
Erfahrung von Glück und Leid macht, und dass es ein Irrweg sei, zu hoffen, dass
das Glück außerhalb von uns selbst gefunden werden kann. Und es verhält sich
so, dass der Dalai Lama nie aufhören wird, sich von spirituellen Lehrern
unterweisen zu lassen, da er sich selbst als alles Andere als
"vollkommen" ansieht. Hiervon zeugt auch ein Text: "Als mich
jemand fragte, was ich fühlen würde, wenn mich die Chinesen einen Teufel
nennen, antwortete ich: Manche sagen, ich sei ein 'lebender Gott'. Das ist
absurd. Manche sagen, ich sei ein Teufel mit zwei kleinen Hörnern. Das ist auch
absurd."
Für viele Chinesen, insbesondere auch für jene in höheren Ämtern und für
den Präsidenten, erfüllt er also diese Rolle des "Teufels". Das geht
so weit, dass sie den Dalai Lama bei jeder Gelegenheit verunglimpfen und ihm
vorwerfen, er sei in politischer Mission unterwegs, wenn er andere Länder
besucht. Dem Dalai Lama ist daran gelegen, Menschen den tibetischen Buddhismus näher
zu bringen, wobei er nie das Ziel hat, in irgendeiner Form missionarisch tätig
zu sein. Chinesen hätten ihn im Auftrag der Regierung getötet, wenn er nicht
am 17. März 1959, also eine Woche nach dem Tibetaufstand,
nach Indien geflüchtet
wäre, wo er sich bis heute aufhält. Dennoch hört er nie auf, Signale Richtung
China zu setzen, dass er für eine Zusammenarbeit offen sei, freilich unter der
Voraussetzung, dass das tibetische Volk in Freiheit leben könne. Das Leben der
Tibeter in ihrem eigenen Land ist davon geprägt, dass sie von den dort lebenden
Chinesen als zweitrangig eingestuft sind und ein Leben voller Entbehrungen führen
müssen. Bis dato sollen 1.200.000 Tibeter aufgrund der schrecklichen Behandlung
der chinesischen Besatzer zu Tode gekommen sein. Viele Tibeter haben Suizid
begangen. Wer sich den Indoktrinationen der Chinesen nicht beugt, hat keine
lange Lebenserwartung. Die Mao-"Bibel" auswendig zu kennen gehört
noch zu den leichteren "Aufgaben" eines seiner kulturellen und religiösen
Wurzeln beraubten Tibeters.
Der Bildband endet mit einem Zitat des Dalai Lama, das eine ungeheure
Signalkraft in sich trägt: "Wenn Tibet wieder einen freien und
autonomen Status hat, werde ich jede politische und offizielle Funktion zurücklegen.
Als einfacher Mönch werde ich näher bei meinem Volk sein. Leichter verfügbar
und auch nützlicher." Der Dalai Lama glaubt ungebrochen daran, dass
die Leidenszeit seiner so schwer geprüften Landsleute in Tibet dereinst ein
Ende nehmen wird.
Währenddessen können es viele Chinesen kaum noch erwarten, dass der Dalai Lama
stirbt. Möge er noch lange leben und das tibetische Volk nie aufhören, von
einem freien und autonomen Staat zu träumen, und möge sich dieser Traum so früh
wie möglich erfüllen.
(Jürgen Heimlich; 04/2009)
Lientipp des Rezensenten: http://www.tibet.at/
Dalai Lama: "Mein Leben in Bildern"
Brandstätter Verlag, 2009. 128 Seiten.
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