Ingo Niermann: "China ruft Dich"
Protokolle
Neunzehn Auswanderer und
Heimkehrer erzählen in "China ruft Dich" von den Lockungen und
Tücken der am schnellsten wachsenden Wirtschaft der Welt
In den vergangenen zwei Jahren wurde über China auf Grund der bevorstehenden
Olympiade
soviel veröffentlicht und im Fernsehen gezeigt, wie in den großen Hochblütejahren
davor und beim Aufstand am Platz des Himmlischen Friedens nicht.
Aber all diese Bereiche sind nur Teilbereiche der chinesischen Realitäten und
zwar zum Teil wirklich sehr kleine. So betreiben z.B. in China prozentuell
gesehen wesentlich weniger Menschen Kampfkunst im Sinn von "Kampf" als
man das hierzulande meist annimmt; die Beschäftigung mit
Taiji oder
Qigong wird
nämlich in der Regel als Vorbeuge- oder Rehabilitations-Maßnahme verstanden, nicht
primär als Bestandteil einer umfänglichen körperlichen, seelischen und
geistigen Bildung, die noch ganz andere Dinge beinhaltet. Deswegen spielen diese
Faktoren in der modernen chinesischen Literatur - und auch in vielen außerchinesischen
Publikationen über China - nur eine eher untergeordnete bis gar keine Rolle.
In "China ruft Dich" stellt Ingo Niermann zunächst seine eigene
fundierte Sicht Chinas einleitend dar, bevor er den Leser mit sehr
unterschiedlichen Menschen konfrontiert, die ihre eigenen Erfahrungen mit dem
Leben in China vorstellen.
Erstmals wurden sie im Sommer und Herbst 2005 interviewt. Im Herbst 2007 wurde
dann noch einmal nachgefasst, um die Entwicklungen in den vergangenen zwei
Jahren mit ihren Auswirkungen auf diese Menschen deutlich zu machen, wobei nicht
alle von ihnen greifbar waren. Die Unterschiede in den Ansichten nach zwei
Jahren sind übrigens recht erhellend.
Unter den Gesprächspartnern
waren ehemalige Militärattachés der DDR, ein Skandinavier auf der
Suche nach verantwortungsloser Kunst, mexikanische Wirtschaftskriminelle
auf der Flucht vor den Bundesbehörden, nigerianische Fußballspieler,
verschiedene Architekturinteressierte, Schlachter, Immobilienhändler, Künstler
und Andere. Aber es sind auch zurückgekehrte Chinesinnen und Chinesen,
die von ihren Erfahrungen berichten und die "allgemeingültigen"
Definitionen von "Freiheit" hinterfragen. Zum Teil hielten
sich die befragten Personen 2005 erst seit kurzer Zeit in China auf und
sahen gewisse Aspekte eher durch eine rosarote Brille, zum Teil waren
sie, gerade im zweiten Interviewdurchgang, nachhaltig desillusioniert
und planten ihre Auswanderung. |
"Ich bin unter der
Erde aufgewachsen. Eine vier- oder fünfköpfige Familie auf zwölf
Quadratmetern. Wir haben alle im selben Bett geschlafen. Es war sehr
niedrig, ohne Licht. Wir mussten uns eine Schaufel tiefer graben, um
aufrecht stehen zu können. Das Bett war einfach ein großes Stück
Erde. Als wir tiefer gegraben haben, haben wir diesen Teil des Bodens
als Bett stehen lassen. In der Nacht haben wir oft Ratten gehört. Am
Morgen habe ich all meine Rattenfallen durchgesehen und oft mehr als
zehn Ratten gefunden. Ich habe fünf Jahre lang unter diesen Umständen
gelebt. Und auch in New York habe ich sehr lange in einem Keller
gewohnt. Ein kleiner Ort kann sehr bedeutungsvoll sein (...) |
Einige der Interviewten unterlagen
komplizierten Selbsttäuschungen, während andere sich erschreckend ehrlich über
sich selbst und ihr Umfeld äußerten, was das Buch schon alleine vom
anthropologischen Standpunkt aus sehr interessant macht und die Perspektive auf
China deutlich öffnet. Weil man immer wieder die Frage stellt - und diese dann
auch noch an andere Texte über China heranbringt: "Wer spricht hier
eigentlich über China? Und mit welcher Absicht?"
Hat man das Buch gelesen, stellt man außerdem fest, dass Titelbild und
Randmarkierung deutlichen Bezug zum Inhalt aufweisen, zu dem man der Fotografin
Antje Majewski, Philippa Walz sowie Andreas Opiolka nur gratulieren kann.
Wer plant, einige Zeit lang in China zu leben und zu arbeiten, sollte sich diese
Interviews auf jeden Fall vorher durchlesen.
(K.-G. Beck-Ewerhardy; 01/2009)
Ingo Niermann: "China ruft Dich.
Protokolle"
Protokolle. Mit Fotografien von Antje Majewski.
Rogner & Bernhard, 2009. 275 Seiten.
Buch
bei amazon.de bestellen