Jaume Cabré: "Senyoria"
Von versteckten Leichen und
frivolen Abenteuern in Barcelona anno 1799
Von Jaume Cabré, dem vor einigen Jahren mit "Die
Stimmen des Flusses" im deutschsprachigen Raum durchgestarteten
katalanischen Autor, liegt mit "Senyoria" in deutscher Sprache nun ein weiterer, in
Spanien schon anno 1991 veröffentlichter Roman vor.
Als Leser, der sich bis jetzt unabsichtlich den "Stimmen des Flusses"
verweigert hatte, ging der Rezensent unvoreingenommen an die
Lektüre dieses, wie sich herausstellte, eher frivolen Gesellschaftskrimis aus dem
Barcelona um 1799-1800.
Die üppige, lustvolle, nicht mehr ganz junge, aber in ihrem
Bett Männer verschlingende französische Sängerin Marie de l'Aube
Desflors verführt nach einem Privatkonzert den jungen Dichter Andreu Perramon, den Freund des
sie vorher zum Unfrieden ihres ständigen Begleiters begleitenden
Komponisten Nando Sorts. Schon vor und während dieser konzertanten
Soirée entfaltet Jaume Cabré
ein feines Netz
von
Intrigen. Im Mittelpunkt dieser Intrigen scheint
von Anfang an der mit einer hauptsächlich der Kirche zugewandten Frau
gesegnete und nicht nur die Sterne voller Begeisterung aus seinem Garten beobachtende,
sondern auch die hübsche Nachbarin und betörende
Baronin Donya Gaietana mit seinen Blicken verzehrende Präsident des königlichen Gerichts, Don
Rafel Massó i Pujades zu sein.
Don Rafel, der sich von seinen Bediensteten überheblich nur
Senyoria nennen lässt.
Als die Sängerin am Morgen nach ihrer Liebesnacht ermordet
aufgefunden wird, hat die Justiz nur ein Ziel: schnell einen Schuldigen zu finden, um dem
König, der die berühmte und als "Nachtigall" bekannte
Sängerin als Nächster hätte hören sollen, wenigstens einen Justizerfolg
vorweisen zu können.
Rasch wird der letzte Liebhaber, der junge Dichter, als Mörder
verhaftet und eingesperrt. Sein einziger möglicher Entlastungszeuge ist sein
Freund Nando Sorts, der in fast komisch-grotesker Filmmanier immer nur knapp allen
Versuchen, ihn aufzuspüren, entkommt. Dafür hat der Leser die
Möglichkeit, Nandos nie abgeschickte und hauptsächlich von seinen amourösen
Abenteuern erzählende Briefe an seinen im Gefängnis sitzenden Freund Andreu zu lesen.
Don Rafel drängt mit aller Vehemenz auf eine Verurteilung und
Hinrichtung des unrechtmäßig eingesperrten Andreus. Die
Gründe dafür werden dem Leser erst mit Verlauf des Buches klar.
Erst nachdem der unschuldige Andreu
hingerichtet
worden ist, werden Kräfte
wach, die den mittlerweile vor Verzweiflung rotierenden, weil auch vom
Polizeichef erpressten Don Rafel mit aller Kraft zur Strecke bringen wollen.
Jaume Cabré hat mit diesem Roman einen wirklich gut lesbaren
literarischen Krimi mit historischer Kulisse geschrieben, mit viel Humor gespickt und
einer gehörigen Portion Frivolitäten gewürzt.
Schön fand der Rezensent, dass die Frage nach dem wirklichen Mörder der Sängerin
irgendwann in den Hintergrund rückte und Don Rafels Vergangenheit und selbst verschuldeter Untergang in den
Vordergrund trat. Ein literarischer Krimi, großartig
übersetzt von Kirsten Brandt, der bei näherer Betrachtung eine wirklich
schöne psychologische Studie eines Mannes ist, der an seiner Vergangenheit und Herrschsucht am Ende
zugrundegeht. Vielleicht ist "Die Stimmen des Flusses" der bessere Roman?
Möglich, der Rezensent wird ihn definitiv in absehbarer Zeit lesen um es
herauszufinden. Gute Unterhaltung und spannende Lektüre ist "Senyoria" auf jeden Fall.
(Roland Freisitzer; 10/2009)
Jaume Cabré: "Senyoria"
(Originaltitel "Senyoria")
Aus dem Katalanischen von Kirsten Brandt.
Gebundene Ausgabe:
Suhrkamp, 2009. 443 Seiten.
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Taschenbuchausgabe:
Suhrkamp, 2010.
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Leseprobe:
I
Er lächelte. Zum ersten Mal seit zwei langen Jahren
lächelte Sa Senyoria,
Präsident des Königlichen Gerichts von Barcelona,
während er sich das linke
Auge zuhielt und mit dem rechten durch das Teleskop blickte. Ihm war,
als
begegnete er einem alten Freund wieder, denn es war der erste Abend in
diesem
verregneten Herbst, an dem er seine Sternenbeobachtung an einem
wunderbar
wolkenlosen Himmel betreiben konnte. Seit einem Jahr hatte er den
Orionnebel
nicht mehr betrachtet, und er hatte Sehnsucht nach diesem magischen
Gebilde, das
laut Monsieur Halley aus vier Sternen bestand, die rasend schnell, wie
von Haß
getrieben, auseinanderdrifteten. Als ob es am Firmament Haß
geben könnte!
Wie immer, wenn er den Himmel betrachtete, wurde Don Rafel
Massó i Pujades von
einem Gefühl der Ohnmacht und Kleinheit ergriffen, einer Scheu
vor dem
Unbekannten, weil die Sterne und Nebelgespinste, die das Fernrohr so
dicht vor
seine Augen rückte, in Wirklichkeit unvorstellbar weit
entfernt waren, einsam,
schweigend, unerreichbar und unbeachtet.
Plötzlich überkam ihn die Erinnerung an die arme
Elvira, und Don Rafels Lächeln
war wie weggewischt. Er schüttelte den Kopf, um die Erinnerung
zu verscheuchen,
und seufzte in die Dunkelheit des Gartens. Dann richtete er sich auf,
zog ein
Spitzentüchlein aus dem Ärmel und schneuzte sich
sacht. Immer wenn er in den
Garten ging, um die
Sterne
zu beobachten, lief ihm die Nase, und das,
obwohl er
Perücke, Dreispitz und Umhang trug. Er sah mit
bloßem Auge zu Orion hinauf,
und dieser erschien ihm vertrauter denn je. Nachdem er das
Tüchlein wieder im
Ärmel verstaut hatte, bückte er sich, um den
geliebten Nebel erneut durch das
Teleskop zu betrachten, und stieß einen
unterdrückten Fluch aus, weil das Bild
schon aus dem Blickfeld gewandert war. Eine geschlagene Minute lang
mühte er
sich ab, den flüchtigen Nebel wieder einzufangen. Donya
Marianna hatte ihn
gewarnt, er werde sich erkälten, und wie immer hatte sie
recht; aber nach dem
wolkenverhangenen Himmel der letzten Tage, dem erklärten Feind
aller
Astronomen, hatte er sich die erste sternenklare Nacht, die schamlos
ihre
Herbstgestirne entblößte, nicht entgehen lassen
wollen. Nicht, daß Don Rafel
Astronom gewesen wäre. In jungen Jahren, als er noch ein
Neuling in der
absonderlichen, geheimnisvollen Welt der Justiz war, hegte er
großes Interesse
für alles Unbekannte und suchte den Kontakt zu
berühmten Physikern wie Don
Jacint Dalmases, der ihn in die
Astronomie
einführte.
Unzählige schlaflose Nächte hatte er mit dem
vergeblichen Versuch verbracht,
das Parallelogramm des Sternbilds Leier einzufangen - wie
mühsam war doch die
Beobachtung der Leier, die fast immer im Zenit stand! - oder das
neckische,
wechselhafte Treiben von Ganymed, Io, Europa und Kallisto, die einander
rund um
den riesigen, behäbigen Jupiter zu haschen schienen, ihr
ewiges Kindermädchen
mit einem einzigen, geheimnisvollen Auge im Bauch wie ein himmlischer
Polyphem.
Der junge Don Rafel hatte eifrigst die Schriften Monsieur Halleys
gelesen und
eine Zeitlang vor seinen Freunden behauptet, er wolle Astronom werden.
Doch dann
hatte ihn die Wirklichkeit eingeholt: Sein Studium war so gut wie
abgeschlossen,
und er konnte wohl kaum all die Jahre, in denen er sich mit
Vorschriften,
Paragraphen, Gesetzen und Urteilen herumgeschlagen hatte, mir nichts,
dir nichts
über Bord werfen. So wurde Don Rafel Rechtsanwalt, heiratete
und verbrachte
seine Nächte nicht länger mit dem Bemühen,
den schweigenden Sternen ihr
Geheimnis zu entlocken.
Nur von Zeit zu Zeit nahm er noch das Fernrohr mit hinaus in den
Garten, um zu
träumen, denn er war ein von Natur aus unzufriedener Mensch.
Es gab so viele,
denen er ihre Stellung, ihren Reichtum und die Schönheit ihrer
Frauen, einige,
denen er ihre Weisheit, wenige, denen er ihre Bedachtsamkeit, und kaum
jemanden,
dem er sein Glück neidete.
Sein Leben war von ständigem Verlangen und sein Herz von
nagender Mißgunst erfüllt,
und darum träumte er, ohne Poet zu sein, verliebte sich, ohne
ein Don Juan zu
sein, strebte danach, sich über die anderen zu erheben, und
redete sich ein,
dies sei das Glück. Er war intelligent genug, eine einmal
errungene Position
auch zu halten, und scherte sich nicht um den Haß und Neid
seiner Mitmenschen.
Und doch waren all diese Bemühungen nichts weiter als die
blindwütige,
verzweifelte Suche
nach dem Glück - und ebendieses blieb ihm
zu seinem
Leidwesen versagt. In Augenblicken der Aufrichtigkeit sich selbst
gegenüber mußte
er sich eingestehen, daß sein Leben nichts Halbes und nichts
Ganzes war, wie
Jupiter.
Ja, Don Rafel war wie Jupiter: zu groß, zu ehrgeizig, zu
massig für einen
festen Planeten; zu klein und zu schwach für einen feurigen,
kraftvollen Stern,
der sein eigenes Licht verstrahlt. Doch genau wie Jupiter hatte er
Trabanten,
die ihn umkreisten. (...)