Mirko Bonné: "Wie wir verschwinden"
Möglichkeiten,
das Leben zu
lieben
"Wie wir verschwinden" - der Titel des vierten Romans des 1965
geborenen Hamburger Schriftstellers Mirko Bonné ist
mehrdeutig. Verschwinden?
Wohin? Wer? Und warum? Verschwinden - ein Wort, das vielschichtig
gedeutet
werden kann. Davonlaufen, sich fortstehlen, abhanden kommen, nicht mehr
vorhanden sein oder sich entfernen sind nur ein paar Synonyme, die
einem dazu
einfallen. Und alle treffen sie mehr oder weniger auf die im Buch
agierenden
Personen und/oder deren Gefühle sowie Empfindungen zu.
Zudem scheint der Tod, das Sterben, ein alles verbindendes Element zu
sein. Dies
klingt ziemlich düster, schwarz und destruktiv. Aber nicht so
Bonnés Erzählung.
In seiner Grundstruktur ist "Wie wir verschwinden" ein durch und durch
optimistischer Roman. Der Autor selbst: "Es geht auch darum,
einen älteren
Menschen wieder Spaß am Leben haben zu lassen. Es geht im
Grunde darum, ihn
dazu zu bringen, die Geschichte seiner Kränkungen,
Verletzungen und all diesen
Dingen, die ihm das Leben vermiest haben, zu überwinden."
Gekränkt und verletzt ist auch der Ich-Erzähler
Raymond Mercey, ein frühpensionierter
63-jähriger Witwer, der sich von einer Herzerkrankung erholt.
Als er nach längerem
Klinikaufenthalt zu Hause eintrifft, erwartet ihn ein Brief seines
ehemaligen
besten Freundes Maurice Ravoux, inzwischen Schriftsteller im letzten
Stadium
einer unheilbaren Lateralsklerose, der ihn nach "46
Herbste[n], 46
Winter[n] und eine[m] Jahrhundertsommer" um Verzeihung
bittet. Doch
Raymond, seit dem Tod seiner Frau Veronique apathisch und
depressiv,
kann nicht
verzeihen. "Wen kümmert schon wirklich die
Seelenpein eines anderen.
Eine Fehlfunktion von Gehirn und Neurotransmittern. Wen
kümmerte die meine?
Einen, so schien es, der im Sterben lag, den ich seit 38 Jahren nicht
mehr
gesehen hatte. Aber hatte mich deshalb auch gleich seine
Seelenfehlfunktion zu kümmern?"
Hervorgerufen wurde diese Verletzung durch einen Verrat. "Wir
hatten
jahrelang einen gemeinsamen Traum gehabt, aber diese Jahre, vier oder
fünf,
waren mittlerweile zehnmal solange Vergangenheit. Der Traum war
verschwunden, so
verschwunden, wie wir mit unserer Maschine hatten verschwinden wollen."
Gemeinsam hatten Maurice und Raymond die "Große
Maschine des
Verschwindens" gebaut, eine Draisine, auf der sie aus ihrem
engen Dorf
Villeblin südöstlich von Paris fliehen wollten. Doch
Maurice verrät ihr
Geheimnis, zuerst Raymonds Jugendliebe Delphine, um sich dann mit jener
ganz aus
dem Staub zu machen. Für Raymond geht seine Kindheit an diesem
verhängnisvollen
Tag, dem 4. Jänner 1960, zu Ende.
Verhängnisvoll ist auch der schwere Verkehrsunfall, der sich
just in dem Moment
ereignet, als die beiden Halbwüchsigen Villeblin den
Rücken kehren wollen.
Einer der beiden Unfalltoten ist derer beider Idol, der Schriftsteller
und
Philosoph Albert
Camus (dessen Freund- und Feindschaft zu
Jean-Paul
Sartre
Analogien zu Maurice und Raymond aufweist). Sein Geist und sein
berühmtes Werk
"Mythos des Sisyphos" stehen über der Handlung des gesamten
Romans.
Maurice beginnt über den Vorfall einen Roman zu schreiben,
dessen Entwurf er
Raymond in seinem ersten Brief beilegt und der in den folgenden
Korrespondenzen
langsam Gestalt annimmt.
Doch zur Versöhnung ist Raymond, der sich "fehl am
Platz [fühlt] in
der Ordnung der Dinge, die anscheinend nur auf Konflikt, Streiterei,
Auseinandersetzung und Feindseligkeit beruhte", noch nicht
bereit. Erst
das Zerbrechen der Ehe seiner Tochter Jeanne und die wachsende
Freundschaft zu
seiner Nachbarin Robertine reißen ihn aus seiner Lethargie
und lassen ihn über
das Leben, das keineswegs mit Anfang 60 zu Ende ist, nachdenken. "Eine
Trennung, so heilsam sie anfangs sein mag, bedeutet immer auch, dass
die Hälfte
von einem selbst verloren geht - als hätte man mit dem
anderen, den man
aufgibt, die Kraft zu unterscheiden verloren." Schritt
für Schritt,
mehr leise als laut, gewinnt Raymonds Leben wieder an Struktur und
Helligkeit. "Vielleicht
musste man manchmal Fehler machen, damit man merkte, dass man noch
lebte."
Nicht der Verlust des Lebens sondern der Lebendigkeit ist das
Schlimmste, was
einem passieren kann. "Wie wir verschwinden" setzt sich ganz nach
Albert Camus mit der Frage auseinander, wie man die Liebe zum Leben
erhalten
kann.
Mirko Bonnés Roman beginnt ganz leise und
unspektakulär. Anfangs umkreist die
Handlung den Leser wie ein trudelnder Schmetterling. Es fehlt etwas
klar
Greifbares, Substanzielles. Bonnés Stoff, seine Wesenheit,
ist zunächst schwer
fassbar und der Hintergrund diffus, die Zeit
scheint nahezu gedehnt.
Man weißt
noch nicht, worum es eigentlich geht. Doch mit fortschreitendem
"Geschehen" bekommt die Handlung mehr und mehr Klarheit. Die Handlung
verdichtet sich und nimmt Gestalt an. Licht und Schatten gewinnen
Konturen.
Zunehmend kommt die "Maschine des Verschwindens",
die so lange
auf dem toten Gleis stand, in Fahrt.
"Wie wir verschwinden" ist der leise, aber intensive,
unzeitgemäße
Roman einer Freund- und Feindschaft im Gestern und im Heute.
Angesiedelt in
Frankreich, ist auch sein gelassen erzählerischer Ton durch
und durch französisch.
Ein Buch von der Liebe und der Eifersucht, von Tod und Verlust, aber
und vor
allem vom
Leben.
(Heike Geilen; 09/2009)
Mirko
Bonné: "Wie wir verschwinden"
Schöffling & Co., 2009. 344 Seiten.
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