Christian Linder: "Heinrich Böll. Das Schwirren des herannahenden Pfeils"

Eine Biografie


Böll: Der Linkskatholik und Chronist der Trümmer

Der 1949 in Lüdenscheid geborene Autor studierte Philosophie und Literaturwissenschaften und arbeitete für den "Deutschlandfunk", "WDR", "Süddeutsche Zeitung" und "FAZ". Neben Reiseerzählungen verfasste er auch das vielbeachtete Buch "Der Bahnhof von Finnentrop. Eine Reise ins Carl Schmitt Land".

Heinrich Böll, so wird Günter de Bruyn zitiert, "gehörte zur alten Bundesrepublik wie das Wirtschaftswunder, die Vertriebenenverbände, die Bildzeitung und Konrad Adenauer". Hierbei hinderte dieser Böll die Nachkriegsrepublik am allzu leicht vollzogenen Übergang zur Tagesordnung. Doch was trieb ihn an, gegen das unverdaute Vergessen anzuschreiben und später auch gegen die Republik? War es Ventil oder Sendungsbewusstsein? Oder beides? Böll war jedenfalls Zeit seines Lebens durch die Nazizeit und Krieg traumatisiert und war der Trümmerliterat par excellence und später der wortgewaltigste Mahner und Kritiker der ersten dreißig Nachkriegsjahre. Und als solcher verdient er eine angemessene Monografie, die nun das vorliegende Buch sich anschickt zu werden.

Im ersten Kapitel webt der Autor unter reichhaltiger Verwendung Böllscher Textfragmente ein atmosphärisch dichtes Gewebe von Schulzeit bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges. Linder führt die Unterscheidung, die analytische Wahrnehmung durch den Geist und die unverdaute Wahrnehmung des Körpers an. Die menschliche Erinnerung spült solche Erinnerungen des Körpers wieder ans Tageslicht. Das Zusammentreffen beider ist Linder zufolge Kennzeichen von Literatur und des Böllschen Schaffens. Böll gestand einmal, dass er Angst vor der Stumpfheit oder Abstumpfung der Wahrnehmung und der Gefühle habe, und so wünsche er sich unglücklich zu sein, weil dies offensichtlich dieser Form der Wahr-nehmung entgegenwirke. Er spricht sogar von Hass den Menschen gegenüber, die angesichts von Leid und Unrecht von Gleichgültigkeit, von Flachheit getragen sind. Aber stets war Böll auch erfüllt von dem Gedanken Teil eines göttlichen Plans zu sein, dabei betrachtete er die Kirche zunehmend selbst als verlogen und verbeamtet. Seine Eltern entstammten dem jansenistischen Milieu deren Grenzregion des Niederrheins und Hollands, und den fröhlichen, rheinischen Katholizismus hatte er nie kennengelernt und vielleicht auch nicht vermisst.

Das unchronologische, prima vista unsystematische oder besser unorthodoxe Vorgehen Christian Linders hinterlässt am Ende auf vorzügliche Weise ein komplexes, vielschichtiges doch in sich konsistentes Bild des Böllschen Werkes und aus diesem heraus des Menschen Heinrich Böll, der wie wenige andere sich erst über das Werk erschließt. Dieses Werk liegt zwar im Klartext vor, oft ein wenig skizzenhaft, gelegentlich hermeneutisch, doch klar und auf den ersten Blick unchiffriert. Wo nicht, ist man geneigt dies der stilistischen Vielfalt zu schulden, könnte man meinen. Doch weit gefehlt, denn auch Böll wechselt die Erzählperspektive meist nicht ohne Grund und verlangt auch von seinen Lesern ein stetes Mitdenken und einige Epochenkenntnisse, die jüngere Lesergenerationen nicht mehr in dem Maße mitbringen. Linder präsentiert in diesem Sinne vieles an Textanalyse und auch Kritik, was vornehmlich dem Zweck dient, dem Leser den Böll zu erklären. Die Textextrakte sind teils zwar umfangreich, letztlich jedoch angemessen.

"Ein intimes Portrait", heißt es im Verlagstext, erwarte den Leser, und dieser zuckt schon vorsorglich: Denn was präsentieren die Biografen heutzutage nicht alles an intimen Details, die aus der Schlüssellochperspektive heraus nicht beschreiben, sondern nur bloßzustellen vermögen. Doch auch hier überrascht der Autor mit einer tiefen Einsicht in das Denken Bölls und nicht in sein Schlafzimmer. Böll schrieb in seinen Briefen aus dem Krieg, dass das Geheimnis eines Autors nur in seinem gesamten Werk ausfindig zu machen sei, "in allen Figuren und Figurinnen, in allen Neben- und Hauptsätzen, versteckten Anspielungen" etc. Da sollten Biografen auch suchen.

Fazit:
Wie Böll spielt auch der Autor mit formalen und stilistischen Elementen, Text und Aufbau changieren, was im Ergebnis ungemein lebendig wirkt. Zahlreiche monochrome Abbildungen reichern den Text an. Im Verlag Matthes & Seitz fand der Autor einen kongenialen Partner, und es erwartet den Leser ein ganz außergewöhnliches Buch über Heinrich Böll, diesen Mahner und Störenfried, der von vielen verehrt, von ebenso vielen aber verachtet und diffamiert wurde.

Wer schon ein wenig in die Jahre gekommen ist und die Nachkriegszeit erlebte, wundert sich bei diesem Buch auch ein wenig, wie fremd einem diese Zeit letztlich doch geworden ist. Einigermaßen - zumindest im Westen - ohne Brüche und weitgehend saturiert präsentiert sich diese zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts, und dennoch liest man sich heute zumindest ein wenig irritiert durch Bölls Texte und deren gesellschaftliche und politische Anlässe. Die 1970er-Jahre schon beginnen fremd zu wirken, gewissermaßen wie hinter einem Schleier. Eine ideale Gelegenheit, die alten Böll-Stücke wieder in die Hand zu nehmen und den Schleier ein klein wenig zu lüften ...

(Klaus Prinz; 11/2009)


Christian Linder: "Heinrich Böll. Das Schwirren des herannahenden Pfeils. Eine Biografie"
Matthes & Seitz, 2009. 624 Seiten, mit zahlreichen Abbildungen.
Buch bei amazon.de bestellen