Ketil Bjørnstad: "Der Fluß"
"O
Mensch! Gib
acht!" (aus "Also sprach Zarathustra" von
Friedrich
Nietzsche)
Gustav
Mahlers 3. Sinfonie ist für extreme Maße
und
ihren geradezu kosmischen
Anspruch bekannt. In einem Brief an seine Verlobte Anna von Mildenburg
beschreibt er selbst euphorisch die entstehende Sinfonie als "ein
so großes
Werk, in welchem sich in der Tat die ganze Welt spiegelt - man ist
sozusagen
selbst nur ein Instrument, auf dem das Universum spielt". In
Ketil Bjørnstads
Roman "Der Fluß" erhält diese Sinfonie nicht nur
eine tragende
Rolle, sondern das Buch weist gleichfalls Züge selbiger auf:
eine erschütternde
Geschichte, ein "Kampf auf Leben und Tod, zwischendurch mit
unendlich
schönen Partien, eine Art verzweifelter Sehnsucht."
Aksel Vinding, achtzehnjähriger Protagonist und
außerordentlich begabter und
hoffnungsvoller Pianisteneleve, schätzt und beunruhigt diese
Sinfonie
besonders. "Weil sie soviel Unheimliches und Brutales
enthält,
jedenfalls am Anfang. Zugleich reicht sie höher in den Himmel
als alle anderen
Sinfonien, die ich kenne, als wollte Mahler Beethoven
übertreffen, das Leben
selbst, und das Geheimnis des Daseins in einer einzigen Tonmalerei
erfassen", erklärt er Marianne Skoog, der Mutter
seiner an Magersucht
gestorbenen Freundin Anja, die an dem Druck, dem die
Debütanten ausgesetzt
waren, zerbrach.
Dem aufmerksamen Leser mögen die Namen bekannt vorkommen. "Der
Fluß"
ist nach dem im Jahr 2006 auf Deutsch erschienenen Buch "Vindings
Spiel" der zweite Teil einer Trilogie, (ein abschließender
dritter Teil
erschien im Frühjahr 2009 in Norwegen), die offensichtlich
viel
Autobiografisches enthält und deren Titelfigur, eben jener
Aksel Vinding,
unverkennbar die Züge des Autors trägt.
Bjørnstad, der neben seiner
erfolgreichen literarischen Karriere gleichfalls Pianist und Komponist
ist, hat
sich lange Jahre gescheut, seine Erfahrungen als Musiker in seine
Bücher zu
integrieren und zum Thema zu machen. "Ich wollte Musik und
Literatur
auseinanderhalten, damit es nach außen nicht wirkt, als
verzettelte ich
mich!", erläuterte er in einem Interview. Doch
inzwischen, sagt er,
sehe er das entspannter.
Tragik des Lebens
Der Roman knüpft nahtlos da an, wo "Vindings Spiel" endet. Der
infolge des Todes seiner Mutter und seiner Freundin früh
erwachsen gewordene,
jedoch mit Selbstzweifel behaftete Klavierschüler Aksel
Vinding verbringt den
Sommer im Ferienhaus seiner besten Freundin Rebecca, die ihn lehrt,
dass "es
eine Art von Glück gibt, ohne Sinn und Zweck, ohne
Leidenschaft, beinahe ohne
Musik." Doch erneut wird er mit der Tragik des Lebens
konfrontiert.
Eine Segelyacht kentert vor seinen Augen und lässt einen Toten
zurück. Unter
den Geretteten befindet sich eben jene Marianne Skoog. "Dass
das mehr
als ein Zufall sein sollte, dass ich nie mehr von ihr loskommen sollte,
so wie
eine Katastrophe auf die andere folgt, so wie Menschen miteinander
verbunden
werden, wieder und wieder, um sich gemeinsam zu ergründen."
Aksel
verliebt sich in die siebzehn Jahre ältere Frau.
Obwohl er ständig zwischen dem harten Alltag aus stundenlangem
Üben und den
anstrengenden Stunden bei seiner Klavierlehrerin Selma Lynge zum Einen
und einem
normalen Leben an der Seite der geliebten Frau zum Anderen hin- und
hergerissen
wird, lässt gerade die Liebe zu der reifen Frau ihn
vom Knaben zum Mann
wachsen. Sie gibt ihm innere Kraft, um sich der Musik noch weiter zu
öffnen.
Der Fluss, Elven, stellt dabei eine symbolische Trennlinie zwischen
zwei Welten
dar, über die Aksel immer wieder springen muss. "Auf
der einen Seite
die Welt der Marianne Skoog. Eine schöne, gefährliche
und befreiende Welt. Die
andere Welt gehört Selma Lynge. Eine fordernde, anstrengende
und verpflichtende
Welt." Zusätzlich ist Elven jedoch auch Inspiration
und führt ihn zu
seiner ersten eigenen Komposition.
Töne im Kopf
Puzzleteilchen für Puzzleteilchen setzt Bjørnstad
seine Geschichte aus Bruchstücken
aneinander. Die Erzählung zieht den Leser in einen magischen
Sog, dem er sich,
einmal begonnen, nicht mehr entziehen kann. Letztendlich kumuliert
alles in
einem tragischen Finale. Wiederum weist die Geschichte Parallelen zu
Mahlers 3.
Sinfonie auf, in der die anfängliche Idylle auch nicht von
Dauer ist, etwas Fürchterliches
geschieht und den Hörer erschreckt, wirkungsvoll durch den
Mezzosopran, der
Nietzsches berühmten Text aus "Also sprach Zarathustra" singt,
in
Szene gesetzt:
"O Mensch! Gib acht!
Was spricht die tiefe Mitternacht?
Ich schlief, ich schlief -,
Aus tiefem Traum bin ich erwacht: -
Die Welt ist tief,
Und tiefer als der Tag gedacht,
Tief ist ihr Weh -,
Lust - tiefer noch als Herzeleid:
Weh spricht: Vergeh!
Doch alle Lust will Ewigkeit -,
- will tiefe, tiefe Ewigkeit!"
Fragen werden aufgeworfen: Ist Kunst wichtig? Wie definiert man
Glück?
Kann Glück Kunst hervorbringen? Sehnen wir uns nach einem
Sinn? Muss man von
Zeit zu Zeit Grenzen überschreiten, Regeln übertreten
und unerwartete
Situationen riskieren? Lauert irgendwo im Grunde eines jeden Lebens
vielleicht
gar das Grauen?
Und immer wieder der verrückte und störende Drang
nach Liebe.
Mit kurzen klaren Sätzen erzeugt der Autor, ähnlich
einem virtuos
eingespielten Musikstück, eine "undefinierbare
Innigkeit im
Ausdruck", Schönheit und ein unvergleichlich hohes
Reflexionsniveau,
ja, farbige Töne im Kopf. Lothar Schneider, der
Übersetzer aus dem
Norwegischen, hat diese wunderbare literarische Musik dem
deutschsprachigen
Leser ohne Verluste zugänglich gemacht.
Conclusio:
Ketil Bjørnstad ist mit "Der Fluß" ein dichter und
intensiver, ein
faszinierender, die Sinne berauschender und fesselnder Roman gelungen.
Auf der
einen Seite enthält er spannungsgeladene Momente voller
Tragik, auf der anderen
tiefsinnige Passagen, in denen Aksel Vinding über sich und das
Leben sinniert.
Ein ständiger Wechsel zwischen Trauer und hoffnungsvoller
Sehnsucht, der das
Seelenleben des achtzehnjährigen Klaviervirtuosen
großartig wiedergibt und die
Macht der Musik einfängt.
Ein Buch, das sich intensiv und voller Spannung ins Bewusstsein des
Lesers drängt.
(Heike Geilen; 04/2009)
Ketil
Bjørnstad: "Der Fluß"
(Originaltitel "Elven")
Aus dem Norwegischen von Lothar Schneider.
Insel Verlag, 2009. 383 Seiten.
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Ein
weiteres Buch des Autors:
"Vindings Spiel"
Aksel Vindings Leben gerät aus den Fugen, als seine Mutter bei
einem
Badeausflug vor seinen Augen ertrinkt. Der
Fünfzehnjährige beschließt, die
Schule abzubrechen und sich ganz dem Klavierspiel zu verschreiben, in
Erinnerung
an seine Mutter, die ihm die Liebe zur Musik vermittelte.
Täglich übt er bis
zur Erschöpfung. Er gründet mit Gleichgesinnten die
Gruppe "Junge
Pianisten", zu der auch die sensible und hochbegabte Anja Skoog
gehört, in
die Aksel sich verliebt. Die Freunde und Konkurrenten Rebecca,
Ferdinand,
Margrethe Irene, Anja und Aksel fühlen sich als die
zukünftige Elite. Während
ihre Altersgenossen die "Beatles" und die "Rolling Stones"
verehren, schwärmen sie für Beethoven,
Ravel,
Bartók und träumen davon,
Debussys "Clair de Lune" oder die c-Moll-Etüde von
Chopin
einzigartig
zu interpretieren. Der harte Weg durch Wettbewerbe, Debüts und
Konzerte bringt
sie jedoch alle an die Grenzen ihrer Kraft und ihres Lebens.
Für kurze Zeit
wird diese Gesellschaft zu einer Art Schicksalsgemeinschaft. Doch Aksel
beginnt
sich zunehmend als Außenseiter zu fühlen, dem die
Frage nach der richtigen
Konzertagentur und der Inszenierung von Auftritten nichts bedeutet, der
sich
nicht korrumpieren lassen will.
Einfühlsam zeichnet Ketil Bjørnstad das
Porträt eines jungen Pianisten, er
erzählt von den musikalischen und erotischen Obsessionen des
Musikers. Ein
Roman über die Schwierigkeiten, erwachsen zu werden, sich
selbst zu finden -
und zugleich eine Liebeserklärung an die Musik. (Suhrkamp)
Buch
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