Martin Beyer: "Alle Wasser laufen ins Meer"
"Die
Geschwister
traumhaft und verwirrt!" oder Der schwarze Engel
Der Salzburger Lyriker Georg
Trakl (1887-1914), ein bedeutender Vertreter des
deutschsprachigen
Expressionismus, wird oft als stärkste Stimme seiner
Generation bezeichnet. Der
begabte junge Mann mit dem unruhigen Geist verinnerlichte zwei Personen
in
seiner Brust: er war "Prophet der Endzeit", aber auch ein Dichter
sinnlicher Traumvisionen voller Schönheit. Die bildhafte
Sprache seiner
Gedichte ist von großer düsterer Kraft und
Farbenpracht. Trakl verstand es,
seine tiefsten und schmerzhaften Empfindungen in Worte zu fassen und
ihnen einen
unvergleichlichen Ausdruck zu verleihen. Seine sinnreichen Gedichte
sind aber
auch gleichzeitig das Spiegelbild einer zerfallenden Welt.
Schon als junger Mann begann er zu dichten. Seine Vorbilder fand er u.
a. in
Rimbaud, Verlaine,
Dostojewski und
Nietzsche ("Es grollte der
Nietzsche
in ihm, da tosten Verlaine-Bäche und zogen
Rimbaud-Stürme vorbei").
Er beteiligte sich an der Gründung eines Dichterzirkels. Das
Vorlesen eigener
Werke war nur eine der Aktivitäten dieses Zirkels von
Jugendlichen. Sie
demonstrierten ihre Verachtung für die bürgerliche
Lebensweise, besuchten
Bordelle und probierten
Drogen.
Zu seiner fünf Jahre jüngeren Schwester Grete
entwickelte Trakl ein besonders
enges Verhältnis, das später zeitweilig sogar in eine
inzestuöse
Liebesbeziehung umschlug. Sie - die begabte Klaviervirtuosin - war wie
Georg künstlerisch
hochsensibel und genauso hemmungslos. Beide trugen, so notierte es
Trakl einmal,
"zerbrochene Schwerter im Herzen".
Ménage à trois
Der 1976 in Frankfurt am Main geborene Martin Beyer hat sich in den
Bannkreis
der beiden sensitiven, exzessiv Wein trinkenden und Rauschgift
konsumierenden Künstler
versetzt. Beyer, der mit 18 Jahren seine ersten Erzählungen
veröffentlichte
und nach seiner Promotion als freier Schriftsteller, Redakteur und
Dozent
arbeitet, nähert sich in seinem eindrucksvollen
Romandebüt "Alle Wasser
laufen ins Meer" subtil unaufdringlich, ja liebevoll, einer
großen Tragödie
der Literaturgeschichte des 20. Jahrhunderts an: der
spektakulären "ménage
à trois" des österreichischen Dichters zu seiner
Schwester und deren
unerwiderte Liebe zu Georgs bestem Freund Erhard Buschbeck.
Diese drei Personen bilden das Rahmengerüst des Romans, der
zum Teil auf wahren
Begebenheiten beruht. Aus deren Sicht wird abwechselnd
erzählt. Beyer lässt
bewundernswert ein Leben zwischen Verzweiflung und Lust literarisch
wiederauferstehen. Die Dreierkonstellation durchzieht das gesamte
Romankonstrukt: Sehnsucht, Besessenheit, Dekadenz - Salzburg, Wien,
Berlin, ist
im Klappentext zu lesen. Doch man findet noch viele andere "Trilogien"
in dem feingeistigen und durchdachten Werk. Der Abschiedsbrief Gretes
vom 22.
September 1917, gerichtet an ihren Bruder, ist dabei verbindendes
Element des
dreigeteilten Werkes, das im Sommer 1906, im Frühjahr 1910 bis
zum Sommer 1912
sowie vom Wintern1913 bis zum Winter 1914 angesiedelt ist. Weitere
authentische
Dokumente sind in den Text eingeflochten.
Der Autor versteht es auf wunderbare Weise, sich in die Gedankenwelt
der drei
jungen zwiegespaltenen Menschen hineinzuimplementieren. Seine Diktion,
seine
Assoziationen und Reflexionen gewähren dem Leser eine subtile
Inbesitznahme
derer Denkinhalte sowie ein tiefes Verständnis der inneren
Zerrissenheit, der
Spannungen und Rastlosigkeiten der Protagonisten. Man leidet mit ihnen,
meint sie zutiefst verstehen zu können, ja schlüpft von Zeit
zu Zeit gar in die
jeweilige Rolle. Beyers Stil, der genau wie Georg Trakls Gedichte von
Sinnlichkeit und Geist, von Leid und Dunkelheit durchdrungen ist,
erzeugt eine
mentale Gefangennahme par excellence.
Ein beeindruckendes Romandebüt
Kurze einprägsame Sätze von klarer Prägnanz
treffen aufs Vortrefflichste zum
Einen den Schmerz der Enttäuschung, des Verkanntseins, der
Ungeduld ("Wir
können hier nicht atmen, wir ersticken hier. Es brennt um uns
herum, und wir
atmen nur noch den Rauch ein."), aber auch die Kraft der
beiden
Trakl-Geschwister ("Vielleicht gab es Augenblicke, wo er und
das Glück
sich zufällig im selben Raum aufhielten, und sie erkannten
einander."),
zum Anderen aber auch den Zeitgeist der ausgehenden
österreichischen k. und k.
Monarchie ("Es war unendlich stickig geworden, aber es lag
etwas in der
Luft [...], es war der Geruch der Veränderung, der Revolution.").
Der
gesellschaftliche Umbruch des Kaiser- und Königreichs
Österreich-Ungarn und
der nahende Erste Weltkrieg sind wunderbar an Beyers Wortwahl zu
spüren: keine
einschmeichelnden Straussschen Operettenmelodien, sondern eher
vergleichbar mit
Arnold Schönbergs
Zwölfton-Musik.
Letztendlich zerbricht der sensible Georg Trakl an den Grauen des
Ersten
Weltkrieges. Seine Einheit, zunächst in Galizien
stationiert, wird in der
Schlacht von Grodek,
im
September 1914, das erste Mal zum Kampf eingesetzt. Sie
hinterlässt, neben den
vielen Gefallenen, auch 90 Schwerverletzte in Trakls Einheit. Ohne
Medikamente
und ärztliche Unterstützung betreut der junge Lyriker
zwei Tage, fast ohne
Unterbrechung, die hilflosen, schreienden, blutenden und sterbenden
Soldaten.
Diese grauenvollen Erlebnisse zerstören den Lebensmut des
hochdepressiven
Dichters, der nach einem vorangegangenen Selbstmordversuch, am 3.
November 1914
an einer Überdosis Kokain im Garnisonsspital
Krakau stirbt. "'Steck
es
in Brand.' sagte er laut vor sich hin. 'Steck alles in Brand. Denn es
gibt nicht
genug Wasser, um dieses Feuer zu löschen.' [...] Das Wasser,
ja das war es.
Aber es schien ihm, als würde er niemals lernen, darin zu
schwimmen."
(Auszug aus "Alle Wasser laufen ins Meer").
Seine Schwester Grete folgt ihm drei Jahre und achtzehn Tage mit einer
selbstausgelösten Pistolenkugel. "Die Einsamkeit hat
ja gar nichts
Erhabenes, sie ist schmutzig und elend. Und ich bin sehr einsam ohne
Dich,
Georg. [...] Alle nennen dich krank, wenn du einen Teil von dir
verlierst. Merkwürdig,
denn man selbst ist doch vielleicht far nicht krank, das Leben in einem
ist
krank und kann nicht existieren. [...] Alle Wasser laufen ins Meer.
Alle Wasser
gehen auf in einem großen Ganzen, das sich nie
erschöpft. Und jeder trägt
einen Teil dazu bei, das ist eine schöne Vorstellung. [...]
Dein Gesicht ganz
nah, Georg. Alle Wasser laufen ins Meer. Auch wir halten sie nicht auf.
[...]
Diese Vorstellung gibt mir jetzt Trost, wenn ich gehe. Und
natürlich hoffe ich,
Dich bald wiederzusehen in diesem großen Meer. Georg. Alle
Wasser laufen
dorthin. Es ist Zeit!" (Grete Trakl, Berlin 22. September
1917)
Fazit:
Ein beeindruckendes, ein respektvolles Buch hat Martin Beyer mit "Alle
Wasser laufen ins Meer" über den viel zu früh
verstorbenen Dichter Georg
Trakl, seine Schwester Grete und deren gemeinsamen Freund Erhard
Buschbeck
abgeliefert.
"Ein falsches Wort konnte den gesamten Eindruck
zerstören, man musste
jedes auf die Waagschale legen. Man durfte sich mit den
Wörtern keine
Leichtfertigkeit erlauben, aber wie viel schwieriger war das, wenn man
viele Wörter
gebrauchte! Wenn man Dialoge schrieb oder gleich ganze Romane",
lässt
der Autor seinen Protagonisten Georg Trakl sinnieren. Martin Beyer hat
sich
diese Leichtfertigkeit keineswegs erlaubt. Ein beeindruckendes
Romandebüt!
(Heike Geilen; 03/2009)
Martin
Beyer: "Alle Wasser laufen ins Meer"
Klett-Cotta, 2009. 240 Seiten.
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Weitere
Lektüreempfehlungen:
Eberhard Sauermann (Hrsg.): "Georg Trakl - Briefwechsel"
Eine Ausgabe von Georg Trakls Briefwechsel hat es bisher nicht gegeben.
Seit dem
Erscheinen der 2. Auflage der Ausgabe von Killy/Szklenar sind bisher 7
Briefe
erstveröffentlicht worden; 7 weitere Briefe Trakls werden hier
erstmals veröffentlicht.
Auch verschollene und erschlossene Briefe werden in der Innsbrucker
Ausgabe
erstmals als Einzelstücke präsentiert, und zwar auch
in den Fällen, in denen
ihr Inhalt nicht rekonstruierbar ist (112 Briefe). Der hier edierte
Briefwechsel
Trakls umfasst insgesamt 389 Schreiben von und an Trakl aus der Zeit
von November 1897 bis Oktober 1914:
private und amtliche Briefe, Briefkarten, Postkarten,
Feldpostkorrespondenzkarten, Ansichtskarten, Telegramme, Visitenkarten,
Briefumschläge ohne Inhalt, Stammbücher,
Gästebücher, Widmungsexemplare von
Trakls Band "Gedichte", von Gedichtsonderdrucken und Büchern
sowie
Fotos mit Widmungen.
Trakls Briefe werden zusammen mit den an ihn gerichteten Briefen in
chronologischer Abfolge ediert. Von jedem handschriftlichen Brief
Trakls ist ein
Faksimile abgebildet, wobei es sich vielfach um erstmalige Abbildungen
handelt.
Im Gegensatz zu Trakls Dichtungen wird bei seinen Briefen auf eine
diplomatische
Umschrift verzichtet. Die Wiedergabe des Brieftextes in genetischer
Darstellung
erscheint bei der überschaubaren Zahl der
Überarbeitungen als ausreichend.
Alle Briefe sind kommentiert. Die neuere Forschung zwingt zu einer
Neudatierung
mancher - teils biografisch brisanter - Briefe, deren falsche
Datierungen bei
Killy/Szklenar in der 2. Auflage noch stehengeblieben waren. Mehrere
Register
(Adressaten, Verfasser, Namen, Orte) dienen der Erschließung
der edierten
Briefe und der Erläuterungen. Mit Konkordanz zur Ausgabe von
Killy/Szklenar. (Stroemfeld
Verlag)
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Hans Weichselbaum:
"Georg Trakl"
Den roten Faden des bibliophil gestalteten Buchs bildet
seine Lebensgeschichte, von der Übersiedelung der Eltern nach
Salzburg, wo sein
Vater, der Eisenhändler Tobias Trakl, den erwarteten
gesellschaftlichen
Aufstieg auch tatsächlich geschafft hat, über seine
ersten literarischen
Versuche, seine Drogenkarriere und die Unmöglichkeit Brotberuf
und Dichterdasein
miteinander zu verbinden.
Neben bereits bekannten Fotos,
Dokumenten und lebensgeschichtlichen Fakten enthält der Band
viele neuen
Entdeckungen, die bisherige biografische Darstellungen korrigieren. So
war
bisher unbekannt, dass Georg Trakl als Teilvormund für seine
Schwester Grete
verantwortlich war. (Otto Müller)
Buch
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Hans
Weichselbaum
(Hrsg.): "Androgynie und Inzest in der Literatur um
1900"
Anlässlich eines Symposions des Internationalen
Trakl-Forums
gingen die
Teilnehmenden einem der sicher umstrittensten Motive im Werk Georg
Trakls und
auch anderer Autoren nach.
Das Bild des Dichters Georg Trakl ist in der Öffentlichkeit
stark geprägt vom
Verhältnis zu seiner jüngsten Schwester Margarethe,
genannt "Gretl".
Seit dem Erscheinen der Biografie von Otto Basil gilt es beinahe als
unumstößliches
Faktum, dass dieses Verhältnis inzestuöser Natur war.
Der Kulturjournalismus
zeichnet dieses Bild immer wieder nach, und manche
Literaturwissenschaftler
versuchen dessen Konturen noch zu verstärken. Die
inzestuösen Motive im Werk
Trakls müssten im Leben eine Entsprechung haben - so die
verbreitete Meinung.
Sowohl aus literarischen wie auch aus biografischen Gründen
sind jedoch die
Zweifel an dieser Sicht auf das Werk in letzter Zeit stärker
geworden. Dies war
der Anlass für das Internationale Trakl-Forum 2003 in Salzburg
ein Symposion zu
veranstalten, das diesen Fragen auf breiterer Basis nachging. Im
Zentrum standen
dabei Dichtung und Person Georg Trakls und die Bedeutung des Inzest-
und
Androgyniemotives im zeitgeschichtlichen Kontext. Ebenso wurde die
Bedeutung
dieser Motive bei anderen Dichtern und Dichterinnen um 1900, wie
Else
Lasker-Schüler,
Robert Musil und Thomas Mann sowie
Lou
Andreas-Salomé, analysiert.
Dem Band sind 41 Briefe von Margarethe, die in Zusammenhang mit
Inzest-Fragen
bei Trakl immer wieder zitiert werden, beigegeben; sie vermitteln einen
Eindruck
von dieser widersprüchlichen und tragischen Gestalt.
Mit Beiträgen von Alfred Doppler, Adrien Finck, Herwig
Gottwald, Walter
Methlagl, Gerhard Neumann, Anja Schöne, Jaak de Vos, Hans
Weichselbaum, Heinz
Wetzel. (Otto Müller)
Buch
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Erhard
Buschbeck:
"Ersehnte
Weite. 'Die Dampftramway' und andere Salzburger Erinnerungen"
Mit
17 Fotos und einem Nachwort von Hans Weichselbaum.
Herausgeben von
Hildemar
Holl.
Erhard Buschbecks Name ist vor allem mit seiner leitenden
Tätigkeit am
Burgtheater verbunden, von wo aus er über vierzig Jahre lang
das österreichische
Theaterleben des 20. Jahrhunderts entscheidend mitprägte. Der
Auswahlband
"Ersehnte Weite" hingegen will das Augenmerk des Lesers auf Buschbecks
schriftstellerisches Schaffen lenken, insbesondere auf seine Texte zur
Kindheit
und Jugend in Salzburg. Sie vermitteln einen anschaulichen Eindruck vom
bürgerlichen
Leben der Jahrhundertwende und entwerfen ein Erfahrungsbild der Stadt
Salzburg,
das sich von dem seines Freundes Georg Trakl stark abhebt. (Otto
Müller)
Buch
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Gertrud
Spat: "Maria
T. Eine Mutter"
Gertrud
Spat erzählt in autobiografischer Form das Leben von
Maria T., der
Mutter Georg Trakls, ein berührender Rückblick.
Warum wird in der Biografie eines berühmten Menschen die
Mutter oft kaum berücksichtigt?
Viel mehr als ihr Name wird meistens nicht erwähnt. Haben
nicht die Mütter den
stärksten Einfluss auf ihre Kinder?
Dem Leben und Werk des Dichters Georg Trakl sind ganze Bibliotheken
gewidmet.
Seine Mutter kommt in den Biografien nur am Rande vor. Wenn
überhaupt, wird sie
meist in eher abfälliger Art erwähnt. Niemand hat
sich bisher mit ihrem
tragischen Schicksal ernsthaft beschäftigt. Nach intensiven
Recherchen legte Gertrud Spat die Lebensgeschichte der Maria T. vor.
Sie hat dafür die
Ich-Form gewählt. Es ist eine Mischung aus Dichtung und
Wahrheit, eine Art
Protokoll, das in seiner Schlichtheit berührend wirkt, ob der
Leser nun ein
Kenner und Verehrer Georg Trakls ist oder noch nie eine Zeile von ihm
zu Gesicht
bekommen hat. Wer ihn gut zu kennen meint, bekommt vielleicht durch die
familiäre
Perspektive einen neuen Blick auf ihn - wer ihn noch nicht kannte, wird
möglicherweise
angeregt, seine Gedichte zu lesen.
Aber in erster Linie geht es um Maria T.
Wie ging die siebenfache Mutter damit um, dass unter ihren Kindern zwei
ganz außergewöhnlich
waren, große Probleme bereiteten (Inzest, Drogensucht ...)
und schließlich
sehr jung gestorben sind - wahrscheinlich beide, sicher eines durch
eigene Hand?
Abgesehen von der ziemlich dramatischen Vorgeschichte der Frau Trakl
und von den
Katastrophen, die sie erlebt hat: die misslungenen Ehen zweier
Töchter, der
Verlust des geliebten Mannes, der Verlust des ganzen Vermögens
und Besitzes
durch Bankrott, der Abstieg in die Armut, Krankheit und Angst um die
Söhne im
Ersten Weltkrieg ...
Dies alles gegen den Hintergrund der sich um die
Jahrhundertwende
stark verwandelnden Stadt Salzburg. Georg Trakl hat
diese Stadt
wohl gehasst und geliebt ebenso wie er seine Mutter gehasst und sehr
geliebt
hat. (Stroemfeld)
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Georg
Trakl:
"Offenbarung
und Untergang. Die Prosadichtungen"
Mit
13 Federzeichnungen
von Alfred
Kubin. (Otto Müller)
Buch
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