Sibylle Berg: "Der Mann schläft"


Eine gewisse Niedlichkeit

"Es stört mich nicht, so weit weg von zu Hause zu sein. Es gibt kein Zuhause mehr. Jeder Ort, an dem ich mich aufhalte, ist gleich. Jeder Ort, an dem der Mann nicht ist." Diese Worte der vierzigjährigen Ich-Erzählerin in Sibylle Bergs Roman zeugen von einem großen Verlust, der ihr widerfahren ist, dem Verlust eines geliebten Menschen.

"Es kann alles vorbei sein in der nächsten Sekunde, oder noch schlimmer: Es kann alles genauso weitergehen." Berg schildert in "Der Mann schläft" eine Liebe, die "ruhig und still verlief, die freundschaftlich war und eine gewisse Niedlichkeit ausstrahlte". Der Duktus der 1962 in Weimar geborenen und heute in Zürich lebenden "Hasspredigerin der Single-Generation" der vergangenen Jahre ist ruhiger und milder geworden. Aber auch wenn das Buch einen melancholischen Grundtenor aufweist, webt die Autorin viele bitterböse Bilder und Bonmots, gewürzt mit sarkastischen Seitenhieben auf die Sinnlosigkeit des Daseins und gezielten Schlägen gegen die Gesellschaft, in ihren literarischen Teppich ein ("Es gab wohl nur wenige Tiere, die so von der Brillanz ihrer Meinung überzeugt waren wie der Mensch und die mit solcher Vehemenz ihre Dummheit verteidigten." oder "Gibt es einen größeren Witz als den Menschen? Emotionale Krüppel in abstoßenden Hüllen, der Welt, dem Rudel, dem Wetter, den Gewalten hilflos ausgeliefert, torkeln wir durch ein Dasein, das an Lächerlichkeit nicht zu überbieten ist. All unsere ernsthaften Versuche, die Welt zu verstehen, charakterlich integere Personen zu werden, Besitz anzuhäufen, die Umwelt zu retten, Doktortitel zu erwerben, enden mit verschissenen Windeln im Altersheim.").

Nach zu vielen befremdlichen kurzen Liebesgeschichten, lernt sie - das schwache "Zitat früherer Attraktivität" - eines Tages "den Mann" kennen. "Ich nannte ihn nur 'der Mann', damit er nicht verschwinden würde, da sich doch meist alles, dem man einen Namen gibt, entfernt." Er vermittelt ihr endlich das Gefühl, angekommen und aufgehoben zu sein, "zwei mit der gleichen Müdigkeit und dem Wunsch, nicht allein zu sterben". Derweil ist er nicht einmal attraktiv mit seinem 110 Kilo massigen und trägen Körper, den roten Haaren. Er entspricht kaum dem, "was man gemeinhin als Kleinod bezeichnete". Aber vielleicht waren es gerade seine fehlenden Eigenschaften - sich nicht in Stereotypen auszudrücken oder in irgendeinem Bereich als besonders befähigt herauszustellen - die sie "beeindrucken". "Ich hätte überall mit ihm sein können. Und ohne ihn nirgends." Ein Gefühl der stillen Perfektion macht sich die nächsten Jahre breit. "Ich war satt."

Doch bei einem Urlaub auf einer südchinesischen Insel vor Hongkong kehrt der Mann nach einem Einkauf nicht mehr zurück und bleibt auch im weiteren Handlungsverlauf verschwunden. Die Protagonistin, die ihn überall verzweifelt sucht, verliert sich zunehmend in einer schweren Depression. Doch die Insel mag sie nicht verlassen. Tag für Tag geht sie dieselben Wege entlang, starrt auf das graue Meer und verliert sich in Erinnerungen an die gemeinsame Zeit mit dem Mann.

Sibylle Berg hat einen sehr erstaunlichen, elegisch-schwungvollen Roman geschrieben. Lebensklug und resigniert, liebevoll und böse zugleich, durchzogen mit einem feinen Humor changieren gleich mehrere Stimmungen im Buch. Manchmal meint man nahezu in einer Lücke zwischen zwei Gedanken hängenzubleiben. Nicht detailliert und wortreich sondern still und entrückt aber trotzdem mit unglaublichem Tiefgang sinniert die Autorin über das Leben in all seiner Vielfältigkeit. Dabei wechselt sie zwischen den Zeitebenen, berichtet in kurzen Sequenzen vom Alltag der Frau, unterbrochen durch Erinnerungen an das Leben davor. Sie lässt in ihrem raffiniert komponierten Roman zwei Zeitebenen aufeinander zulaufen, bis die erinnerte Vergangenheit mit dem letzten Kapitel die erzählerische Gegenwart erreicht. Das Lesen verlangt erhöhte Konzentration, die jedoch allemal lohnenswert ist, um die vielen kleinen Finessen zwischen den Zeilen zu entdecken. Und vielleicht wird die Protagonistin letztendlich doch noch mit einem glücklichen Ende belohnt.

"Der Mann schläft", Sibylle Bergs wundervolle Liebesgeschichte, durchsetzt mit gewohnt bissigen, lakonischen und zynischen Lebensbetrachtungen voller Weisheit, ist ein starkes und pointiert geschriebenes großes Stück existenzieller Literatur.

(Heike Geilen; 10/2009)


Sibylle Berg: "Der Mann schläft"
Carl Hanser Verlag, 2009. 309 Seiten.
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