Nir Baram: "Der Wiederträumer"
Im
Jahr 1919 musste der Urgroßvater des Wiederträumers
Gerschon sein Stetl verlassen. Er habe mit seiner besonderen Gabe den
Ehemann einer Frau stumm gemacht, die unter dessen permanenten
Beleidigungen schwer zu leiden und Gerschon deshalb um Hilfe gebeten
hatte. Obwohl er sich mit der Frage verteidigte: "Glauben
denn die verehrten Friedensrichter an Hexerei und Magie?",
verurteilten sie ihn, das Stetl zu verlassen. Er ließ seine
schwangere Ehefrau zurück, aber nicht , bevor er eine Vignette
mit seinem Konterfei geprägt und vor allen Häusern
verteilt hatte. Darauf stand zu lesen: "Meine Begabung habt
ihr gewollt, zum Dank habt ihr mich verjagt." Nach einem
unsteten Wanderleben quer durch Europa stirbt er 1922
vierzigjährig in Wien.
Mehr als acht Jahrzehnte später entdeckt
sein Urenkel Joel in Israels Hauptstadt Tel Aviv schon als
kleiner Junge, dass er das übersinnliche Talent seines
Urgroßvaters geerbt hat. Er besitzt die Gabe, die
Träume anderer Menschen mitzuträumen und sie ihnen,
die sich natürlich nicht daran erinnern können, nach
ihrem Erwachen wiederzugeben. Joel wächst in Beth-Hakarem auf,
einer jüdischen Gemeinde, in der anscheinend die Gesetze und
die Moral noch gelten:
"Die Menschen waren werktätig und energisch, die Tage
voll von Aktivitäten, selbst die Samstage vorbildlich
organisiert. Sogar die Alten machten einen energischen Eindruck, waren
immer mit irgendetwas beschäftigt, hatten keine Zeit mit
Lappalien zu verplempern. Arbeitslose, Parasiten, Verachtete waren
allgemein bekannt und stigmatisiert, man prägte sich die Namen
der Sünder und ihre Sünden ein."
Über eine lange Zeit schlummert seine Gabe ungenutzt. Als Joel
viel später - er hat sich längst aus der
traditionellen Denkweise von Beth Hakarem gelöst - seiner Frau
Rachel von seiner Gabe erzählt, weil er sein Wissen nicht mehr
für sich behalten will, ruht sie nicht, bis er seine Gabe an
ihr anwendet. Rachel will nun nur noch träumen und
gerät in eine regelrechte Sucht danach.
Doch in dem vorliegenden Roman des 1977 geborenen Nil Baram, der in
Israel großen Erfolg hatte, gibt es noch viele andere
handelnde und träumende Personen. Da ist das Zwillingspaar
Alon und Lior, deren Geschichte sich im Lauf des Buchs
entblättert. Alon verbringt nach einer Schizophrenie in seiner
Pubertät seine Tage mit der Zwillingsschwester Lior und
übersetzt nebenbei deutsche Kinderbücher. Er macht
die Nacht zum Tag, wenn er schwer halluzinierend durch die
Straßen Tel Avivs rennt, um seine frühere Geliebte
Noa durch den perfekten Traum wiederzufinden. Alon hat die Gabe des
Wiederträumens von dem bald darauf ermordeten arabischen
Bettlerkönig Jonathan gelernt, der wiederum mit Joel bekannt
war, der auch in Verdacht gerät, an Jonathans Tod beteiligt
gewesen zu sein.
Lior hingegen arbeitet als Haushälterin bei der
Träumerin Rachel, ohne dass einer von den Abgründen
des Anderen etwas erfährt.
All dies geschieht in einem Tel Aviv, das seit Monaten von
sintflutartigen Regenfällen und Stürmen heimgesucht
wird, was die entsprechenden sozialen und politischen Bewegungen und
Aktivitäten auslöst.
Der sanfte Apokalyptiker Nir Baram hat einen bitterernsten Roman
geschrieben, in dem sich permanent die Ebenen verschieben. Anders als
etwa noch bei Amos Oz und David Grossmann ist auch die
jüdische oder hebräische Identität seiner
Hauptpersonen kein wichtiges Thema mehr. Diese Fragestellung
verschwindet sozusagen hinter dem Problem ihre permanenten Fremdheit
sich selbst gegenüber. Nir Baram möchte sich wohl mit
seinem "Wiederträumer" in die Tradition der alttestamentlichen
Propheten stellen, die auch oft durch Träume und ihre
Interpretation ihre Kritik an den herrschenden politischen und
religiösen Verhältnissen in Israel
ausdrückten. Barams Buch kann als Parabel auf die
Zustände im heutigen Israel gelesen werden. Vor lauter
Erinnerungen und Träumen, vor lauter schwerer Vergangenheit
wird die Gegenwart und erst recht die Zukunft verpasst . Baram
lässt seine Figuren geschickt in aktuelle politische und
soziale Widersprüche in Israel verwickelt sein und hatte dort
wohl auch deshalb mit diesem schon im Jahr 2005 (also lange vor dem
Gaza-Krieg) im Original erschienenen Buch einen solchen Erfolg,
besonders bei seiner eigenen Generation. Doch auch der große
Amos Oz zollte ihm seinen Respekt und nannte das Buch " ein
einzigartiges Leseerlebnis".
Dies ist es in der Tat. Keine leichte Lektüre, dauernd mit der
Komik des Absurden spielend, verzweifelt anschreibend gegen die
Übermacht der Vergangenheit und doch nicht ohne Hoffnung
für ein Land, für dessen Zukunft er sich einsetzt,
indem er immer wieder die Gleichberechtigung von Arabern und Juden in
Israel propagiert.
"Der Wiederträumer" zeigt ein zwar verfremdetes, aber doch
immer wieder deutliches Porträt einer Gesellschaft und eines
Landes, das sich fürchtet, irgendwann im Sturm unterzugehen,
irgendwann von welchen Fluten auch immer überschwemmt zu
werden. Der niederländisch- jüdische Schriftsteller
Leon de Winter hat in seinem Buch "Das Recht auf Rückkehr"
auch von Tel Aviv geschrieben. In seiner Version ist Israel anno 2024
nach mehreren schmutzigen atomar verseuchten Bombenanschlägen
von Islamisten auf die Stadtgrenzen von Tel Aviv reduziert worden.
Für de Winter haben "die Palästinenser die
Juden mit ihren Gebärmüttern besiegt", und
er gibt auch der Welt und insbesondere Europa die Schuld daran, wenn er
durch eine seiner Figuren seine auch an anderer Stelle festgestellte
Behauptung wiederholt:
"Die Welt hasste uns, weil wir kein Land hatten und sie hasst
uns jetzt, weil wir ein Land haben. Und sie hasst uns auch, weil sie
wegen der Shoah Schuldgefühle hat. Schuldgefühle sind
problematisch und unliebsam. Wie gern wären die
Europäer uns los. Ich glaube, sie hoffen schon seit 1948, dass
die Araber die Sache zu Ende bringen."
Nir Baram hat einen anderen Blick. Für ihn liegt die Gefahr
für Israel in seinen inneren Widersprüchen, daran,
wie durch Unrecht Gemeinschaft zerstört wird. Und insofern
steht er gewollt oder ungewollt genau in der Tradition von Jesaja, Amos
oder Jeremia, die zu Lebzeiten immer wieder darauf hingewiesen haben,
dass die Duldung bzw. die Förderung des Unrechts im Land den
feindlichen Mächten geradezu die Tür öffnet.
Den Fremden Heimstatt zu geben, den Witwen Recht zu verschaffen, die
Armen zu achten und die Gesetze zu halten, das gereiche dem Land zum
Segen, so wurden die Propheten im Alten Testament nicht müde
zu sagen. Doch es ist schwer, wenn die Fremden sich nicht integrieren
wollen, ja wenn sie die Juden ins Meer treiben und vernichten
möchten, es ist schwer, wenn sich u.A. Witwen als lebende
Sprengsätze in Cafés in die Luft jagen und die
Armen nur noch von Alimenten leben wollen, weil sie selbst nichts auf
die Beine bringen und ihre selbsternannten Führer nur in die
eigene Tasche wirtschaften.
Barams Buch ist ein weiteres literarisches Dokument aus einer
zerrissenen und gespaltenen Gesellschaft, die Rachel Shabi
unlängst in "Wir sehen aus wie der Feind" eindrucksvoll aus
der Sicht arabischer Juden beschrieben hat.
(Winfried Stanzick; 12/2009)
Nir
Baram: "Der Wiederträumer"
Aus dem Hebräischen von Lydia Böhmer und Harry
Oberländer.
Schöffling & Co., 2009. 477 Seiten.
Buch
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Leseprobe:
Er lag an der Seite des eingerollten, reglosen Körpers, von
dem er sich
verraten fühlte. Joel Kadmon, dem Wiederträumer,
schien es, als ob sich ihr Körper
starr und protestierend von ihm abwende. Manchmal war ihr Schlaf ein
Varieté
aus Schaukelbewegungen, dumpfen Reflexen,
Flüstertönen, Schmatzen, sogar von
amüsanten Verwünschungen. Während des
Schlafs führte Rachel immer eine zügellose,
laute Existenz. Von weitem hörte er eine Sirene heulen. Er
schleppte sich zum
Fenster und sah unweit der Allee eine Ambulanz halten. Näher
konnten sie wegen
des Hochwassers auf der Straße nicht heranfahren. Einige
Leute sprangen aus dem
Wagen und tauchten in die Allee ab, menschliche Schatten. Das Sehen
fiel ihm
schwer, deshalb konzentrierte er sich auf die gedämpften
Laute. Die Leute mit
der Trage waren schon da, hoben den toten Körper auf und
legten ihn darauf ab.
Sein Blick blieb an der Allee hängen, an dem Wenigen, das
für ihn noch
sichtbar war: die hin und her laufenden Schatten und der eingerollte
tote Körper.
Für den Bruchteil einer Sekunde fiel ein eigenartiges Licht
auf die Allee, weiß
der Teufel,
woher es kam, und für einen Augenblick verharrte sein Blick
auf dem
Toten, bohrte sich in ihn hinein. Ein Albtraumbild blitzte in ihm auf,
sein Körper
erschauerte und schon war die Allee wieder dunkel und der Leichnam
verschwunden.
Der Blick des Wiederträumers wanderte vom geräumigen
Balkon im dritten Stock
zum Himmel über der verregneten Stadt. In seiner Erinnerung
breitete sich ein
dichtes Netz aus Tausenden
von Sternen aus, glänzend wie
damals in seiner
Kindheit über dem Wadi an der südlichen Grenze.
Einladend sah das aus, die
Himmelskuppel mit ihren erhabenen Sternen - es schien, als schmiegte
sie sich an
den oberen Rand des Gebäudes. Das Ewigkeitsgefühl
schützte seine bloßen
Gliedmaßen vor den Böen einer neuerlichen
Jerusalemer Unwetterfront. Nacht um
Nacht war der Balkon, waren das Wadi und die
Sterne an ihrem Platz verankert.
War es nicht kindische Vermessenheit, zu glauben, der blau
getönte Teppich, übersät
mit den Diamanten der Nacht, werde sich auch noch in ein oder zwei
Jahren ihm zu
Ehren entfalten? Konnte denn irgendetwas den Strom der Zeit bezwingen
und genau
das bleiben, was es gewesen war? Als Kind erträumte er sich
phantastische Dinge
wie die Vernichtung der widerlichen Beth-Hakerem-Gemeinde, aber genauso
innig wünschte
er, sie möge genau das bleiben, was sie war. Nachdem er
zwanzig geworden war,
zog er mitten in eine dicht bevölkerte Wohnsiedlung Tel Avivs.
Die Stadt am
Meer war das Mekka der
Israelis, die sich mehr und mehr verwestlichten.
Sie alle
klopften an ihre Tore. Darunter waren diejenigen, die ihre Jugend in
den Vorstädten
verbracht und sich immer nach ihr verzehrt hatten. Sie glaubten an ein
stürmisches
Leben dort. Darunter waren aber auch diejenigen, die von der Furcht
getrieben
wurden, sie könnten abgehängt werden, und
schließlich auch solche, die wie er
selbst jede Erinnerung an ihre
Kindheit spurlos tilgen wollten, um neu
geboren
zu werden.
Manchmal traf er auf der Straße Bekannte von damals. Die
meisten von ihnen
hatten die Gelegenheit zur Wiedergeburt genutzt. Die
Schöngeister und die
Gewitzten hatten ihre Vergangenheit, die er nur allzu gut kannte, den
gegenwärtigen
Erfordernissen von Tel Aviv angepasst.
Sie schilderten ihr Heldenleben als glatten, einheitlichen Ablauf ohne
Lücken.
Die Schlichteren betonten unverfroren die neuen Manieren, die ihre
reorganisierte Persönlichkeit sichtbar machten, und quasselten
viel in einem
Jargon, mit dem sie Kindheit und Herkunft verleugneten. Er hingegen,
der böse
Bube der Gemeinde von Beth-Hakerem, hatte sich als Kind damit
getröstet,
ausgegrenzt zu sein, sich genetisch von den anderen zu unterscheiden,
die ihre
Kindheit meist in starrem Gehorsam gegenüber ihren Eltern
verbrachten. Das war
eine Illusion, wie sich herausstellte. Die kleinlichen Einzelheiten,
die alle
zur menschlichen Existenz gehören, verschreckten ihn. Ganze
Tage beschäftigte
er sich mit Wasser- und Elektrizitätsrechnungen, errechnete
Steuern und
verplante sein Geld für Einkäufe oder
Vergnügungen. Seine berufliche Zukunft
machte ihm Angst, das Gebirge der Alltäglichkeiten drohte ihn
zu erdrücken. Für
andere waren es Schritte in eine faszinierende Zukunft, für
ihn nur die nackte
Tatsache, irgendwie weiterzuexistieren.
In den ersten zwei Jahren in Tel Aviv hatte er die fixe Idee, alles,
was er
erreicht hatte, werde am nächsten Tag oder in der
nächsten Woche verschwunden
sein. Ungeachtet des Bewusstseins dessen, was er erreicht hatte,
erwachte er
jeden Morgen in einer Welt, in der es keine Gewissheiten gab, nicht
eine einzige
Gewissheit.