Oguz Atay: "Der Mathematiker"
Ein
Roman über das Leben des Mustafa Inan
Der 1934 im Norden der Türkei in Inebolu geborene und 1977
viel zu früh in Istanbul
verstorbene Oguz Atay ist außerhalb der Türkei fast
unbekannt. Nach einem Ingenieurstudium an der Technischen
Universität Istanbul war er einige Jahre als Dozent an dieser
Universität tätig.
Sein erster Roman "Die Haltlosen" erschien 1972, ein Jahr
später "Gefährliche Spiele". "Der Mathematiker" ist
Oguz Atays letzter Roman und erschien 1975.
"Der Mathematiker" zeichnet den Lebensweg des Ingenieurs und
Mathematikers Mustafa Inan (1911-1967) nach, der schon als Kind mit
seinen besonderen Fähigkeiten überraschte und nach
einem Promotionsstudium an der Eidgenössischen Technischen
Hochschule in Zürich an die Technische Universität
Istanbul als Professor zurückkehrte. Später wurde er
auch Dekan.
Der Roman beginnt damit, dass ein junger Student aus der Provinz vor
den Toren der Naturwissenschaftlichen Fakultät der
Universität Ankara steht und versucht, an die Ergebnisse der
Aufnahmeprüfungen zu kommen. Ein sympathischer Professor nimmt
sich seiner an und beginnt, ausgehend von einer an diesem Tag
stattfindenden posthumen Ehrung für Mustafa Inan, dem jungen
Mann Mustafa Inans Geschichte zu erzählen.
Somit hat Oguz Atay das Rad seines Romans auf sehr subtile Art und
Weise ins Rollen gebracht. In klarer, poetischer Prosa erzählt
Atay die Lebensgeschichte seines ehemaligen Professors. Er beginnt mit
Mustafa Inans Kindheit, die mit einem Sturz vom Dach des Hauses seiner
Eltern anhebt und bewegt sich über die Schul- und Studienjahre
zur Heirat mit Jale hin, um den Bogen elegant via Zürich
zurück nach Istanbul zu schließen.
Das tut Oguz Atay auf beeindruckende Weise; er lässt den Leser
quasi als Außenstehenden zuhören, wie der Professor
Mustafa Inans Geschichte dem jungen Studenten erzählt. Dabei
kommen unvermittelt auch andere Stimmen zu Wort. Mitschüler,
Studenten, Eltern, Geschwister, Mustafa Inans Frau Jale und viele
Andere, die von Zeit zu Zeit ihre Kommentare einstreuen
dürfen. Dadurch entsteht ein ständig wechselndes
Erzählbild, das die Struktur dieses biografischen, fast
dokumentarischen Romans schön auffächert und
interessant macht.
Mustafa Inans von Oguz Atay gezeichnetes Bild ist lebendig und bunt,
seine Persönlichkeit wird gut und überzeugend
vermittelt. Ein wenig zu bewusst überzeugend.
Und das ist der Punkt, der mich persönlich ermüden
ließ. Oguz Atay trägt immer wieder etwas dick auf,
daher vermeint man als Leser oft, einer literarischen Seligsprechung
des in der Türkei berühmten Gelehrten beizuwohnen. Zu
gut, zu imponierend, zu leuchtend, zu inspiriert, zu wichtig, zu
korrekt kommt dieser Mustafa Inan in seinem Kampf gegen
Trägheit und Faulheit des Denkens dem Leser entgegen. Die
damit verbundene moralisierende Botschaft, nämlich, dass sich
die Gesellschaft nur entwickeln könnte, wenn diese
Trägheit und Faulheit abgelegt werden würde ist
einfach zu klar, zu brav, zu wenig künstlerisch inspiriert.
Oguz Atay schreibt großartig, seine Prosa ist der rettende
Baustein dieses Romans. Atays beeindruckende Satzstrukturen, seine
perfekt eingeschobenen Perspektiv- und Zeitwechsel haben mich
fasziniert, ich fand mich jedoch bald nur auf Oguz Atays Prosa
konzentriert, da mich die lobhudelnde Geschichte, obwohl immer wieder
durch fesselnde Abschnitte durchbrochen, nicht bis zum Ende packen
konnte.
Um einen Vergleich zu bemühen: Ich würde diesen Roman
mit einem genial instrumentierten symphonischen Werk vergleichen,
dessen Themen und musikalische Inspiration nicht mit dem perfekten
Handwerk im Gleichklang sind.
Sehr gerne würde ich die ersten beiden Romane Oguz Atays
lesen, um zu spüren, wie dieser äußerst
interessante türkische Autor mit reiner Fiktion umgegangen
ist; das schriftstellerische Potenzial ist in "Der Mathematiker"
nämlich sehr wohl vorhanden.
(Roland Freisitzer; 08/2009)
Oguz
Atay: "Der Mathematiker"
(Originaltitel "Bir Bilim Adamının Romanı")
Aus dem Türkischen von Monika Carbe.
Unionsverlag, Türkische Bibliothek, 2009. 349 Seiten.
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schildert einen facettenreichen Staat zwischen Aufbruch und Tradition.
(Wiley-VCH)
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Joachim
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"Für mich, der ich viele Sommer auf den Prinzeninseln
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dieses Buch der hinreißende Bericht von der Betörung
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Landschaft, das Licht und die Menschen dieser Inselwelt. Joachim
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zu
verlieren. Er entfacht den Wunsch, sofort ein Ticket zu lösen
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Pamuk (mare)
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Keith Devlin: "Pascal,
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Lässt sich die Zukunft vorhersagen, das Glück
berechnen? Bis zur Mitte des 17.
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Problem, über
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Doch was sie dabei entdeckten, sollte unsere Ansicht über die
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revolutionieren. Die von ihnen erfundene Methode, die
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Errungenschaften
der modernen Welt - vom Versicherungs- und Kreditwesen über
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erst ermöglicht.
In seinem ebenso kenntnisreichen wie unterhaltsamen Buch
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Beck)
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