Metin Arditi: "Tochter des Meeres"


Dieser Roman des 1945 in Ankara geborenen und seit seiner Kindheit in Genf lebenden französischsprachigen Metin Arditi entführt den Leser in eine ebenso tragische wie dramatische Familiengeschichte und die raue Welt der Fischer auf der griechischen Insel Spetses und in den Übergang der Insel und seiner Bewohner von einer fast archaischen Kultur in den modernen Tourismusbetrieb.

Zunächst wird von zwei Brüdern erzählt, von Spiros und Nikos Louganis, die im November 1930 von der Insel Kalymnos kommend, wo sie mit dem Tauchen nach Schwämmen ihr hartes und lebensgefährliches Brot verdienten, nach Spetses kommen, nachdem sie auf verschiedenen anderen Inseln ohne Arbeit geblieben waren. "Dort lebten seit dem 12. Jahrhundert Albaner, die vor der Zwangsislamisierung durch die Ottomanen geflohen waren und deren Nachfahren den Türken gegenüber eine heftige Abneigung bewahrten. Die Insel war ein Zentrum des Unabhängigkeitskrieges gewesen, und ein Großteil der griechischen Flotte war dort gebaut worden. Seither waren die Werften von Spetses berühmt. Aber auch hier fragten die Brüder vergeblich nach Arbeit."
Spiros und Nikos klopfen an Türen des Klosters und finden dort Unterkunft und Arbeit.

In der Küche des Klosters begegnet Spiros Magda, sieht in ihr die Frau seines Lebens und heiratet sie bald mit Erlaubnis der Klostervorsteherin Igoumani. Magda wiederum verkuppelt ihre Freundin Foloni an den anderen Bruder, der es Spiros gleichtun will.

Die beiden Paare leben glücklich zusammen, und als die fleißigen  Brüder, die "das Meersalz im Blut" haben, einen Kaik bauen, ein sechs Meter langes Holzboot mit verjüngtem Bug und Heck und einem Segel, wächst auch langsam ihr Wohlstand. Von den Erträgen der Fischerei kaufen sie sich ein Stück Land und bauen ein gemeinsames Haus. Sie schaffen das gesamte Baumaterial mit ihrem Kaik von einer anderen Insel heran, und bald schon steht ein zweistöckiges kleines Gebäude.

Nikos zieht mit seiner Frau Folini im Erdgeschoss ein, weil sie gerade einen kleinen Sohn, Aris, zur Welt gebracht hat. Spiros und Magda nehmen den ersten Stock, und auch bei ihnen kommt einige Jahre später eine Tochter zu Welt, die sie Pauline nennen.

Nachdem sie zwölf Jahre mit den Netzen gefischt haben, begreifen die beiden Brüder, dass sie für die Belieferung der ersten Touristenhotels der Insel andere Fische und für den Fang dieser Fische ein größeres Boot benötigen. Achtzehn Monate brauchen sie, bis sie die elf Meter lange "Dio Adelfia" fertiggestellt haben, das größte Fischerkaik der Insel und das einzige mit Motor.

Eines Abends, die Familien sitzen mit ihren Kindern beieinander, begreift Spiros ein bislang ungelüftetes Geheimnis. Paulina ist nicht seine Tochter, sondern Nikos’.
Am nächsten Tag sprengt er sich und seinen Bruder mit dem Dynamit, das zum Fischen gedacht war, in die Luft. Zwei Frauen haben keine Männer mehr und zwei Kinder keinen Vater.

Fünf Jahre später, Pauline ist zu einer jungen Frau herangewachsen, beginnt nun die eigentliche Geschichte des Romans. Pauline ist in ihren Cousin Aris verliebt, (beide kennen das Geheimnis nicht!), mit dem sie zusammen die verrottende "Dio Adelfia" wieder instandgesetzt hat, mit der sie in der Saison Touristen zu einsamen Inseln und Stränden fahren. Ein recht einträgliches Geschäft.

Aris geht auf die Annäherungsversuche seiner Cousine nicht ein. Er kann es nicht, aus Gründen, die bald klar werden. Als er es doch einmal tut, nimmt ein großes Verhängnis seinen Lauf, und Paulines Leben gerät gänzlich durcheinander ...

Mit großer Sprachkunst und starken Bildern verfolgt Metin Arditi Paulines Geschichte bis zum Jahr 1975, wo sich schlussendlich ein langer, tragischer Lebenskreislauf schließt.

"Die Tochter des Meeres" ist ein Roman, der von der Kraft der Liebe erzählt und doch mehr ist als ein Liebesroman, der eine pralle Lebensfreude ausstrahlt und doch den Leser auch in die Abgründe des Leides und der Verzweiflung mitnimmt. Große, bewegende Unterhaltungsliteratur vom Feinsten.

(Winfried Stanzick; 03/2009)


Metin Arditi: "Tochter des Meeres"
(Originaltitel "La Fille des Louganis")
Aus dem Französischen von Claudia Steinitz.
Hoffmann und Campe, 2009. 254 Seiten.
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Hörbuch:
Sprecherin: Maria Hartmann.
Hoffmann und Campe, 2009.
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