Friedrich Ani: "Totsein verjährt nicht"
"Ich
habe alle Zeitungsartikel über Scarlett ausgeschnitten und in
einer Schachtel gesammelt. Das weiß niemand. Das Vertrauen in
die Mordkommission habe ich eigentlich verloren, in Sie aber noch
nicht, Herr Fischer. Sie glauben mir, das weiß ich, und Sie
werden jetzt, wenn Sie lesen, was ich erlebt habe, handeln und sich von
Ihren Kollegen und Vorgesetzten nicht einschüchtern lassen.
Das hoffe ich jedenfalls.
Ich habe Scarlett Peters erkannt ..." (Aus dem Roman)
"Totsein verjährt nicht" von Friedrich Ani ist der dritte
Kriminalroman mit seinem Kriminalkommissar Polonius Fischer aus dem
Münchner Dezernat 111, wo schon seine berühmte andere
Romanfigur Tabor Süden arbeitete, den der Autor vorlegt.
Früher war er Mönch, der irgendwann seine Kutte
ablegte und sich bei der Polizei bewarb. Seiner in der aktuellen
Geschichte schwer verletzten Lebensgefährtin Ann Kristin, die
als Taxifahrein arbeitet, von vier Männern nur so zum
Spaß brutal zusammengeschlagen wurde und deswegen im Koma
liegt), beschreibt er diese Zeit zum ersten Mal - und somit
erfährt auch der Leser der bisherigen Bücher die
Details:
"Aber ich war nicht anwesend in mir. Und niemand, der nicht in
sich selbst anwesend ist, ist anwesend in der Welt. Ich stellte mich
bloß dar. Kannst du dir den Schrecken vorstellen, der einen
Menschen heimsucht, wenn er eines Nachts sein wahres Empfinden und
Denken begreift? Dieses Ausmaß von Gottesferne ist
ungeheuerlich. Das ist, als hätte dich jemand im Weltall
ausgesetzt und dein Atem bestünde aus Nägeln, und
jeder Atemzug reißt noch tiefere Wunden in deine Einsamkeit.
Das Schweigen Gottes, also das Schweigen der Liebe brachte mich fast
um. Ich hörte auf zu essen, zu trinken, ich hörte auf
zu beten, ich verließ meine Zelle nicht mehr."
Es ist diese tiefe Reflexionsarbeit, die auch "Totsein
verjährt nicht" auszeichnet und es hinter der
Oberfläche zu einer anstrengenden, stellenweise
quälenden Lektüre macht, die einen nicht unbeteiligt
lassen kann. Der Autor mutet mit dem aktuellen Fall seinen Lesern
nichts Anderes als die ungeschönte, grausame und sinnlose
Wirklichkeit zu. Auch in "Totsein verjährt nicht" gibt es
Textpassagen, bei deren Lektüre man angesichts der
beschriebenen Kälte der Menschen verzweifeln und laut
aufschreien könnte. Und doch gibt es auch immer wieder
wunderbare Stellen, Lieder der Hoffnung sozusagen, doch sie werden
nicht zu Ende gesungen. Sie enden dissonant, weil die Welt so ist.
Der Fall, um den es dieses Mal geht, basiert auf einem realen Ereignis,
dem Verschwinden der kleinen Peggy aus Oberfranken im Jahr 2001.
Im Buch heißt das im Alter von acht Jahren verschwundene
Mädchen Scarlett, und seit sechs Jahren fehlt von ihm jede
Spur. Jonathan, geistig zurückgeblieben, wurde wegen Mordes an
dem Mädchen zu lebenslanger Haft verurteilt, obwohl es keine
Leiche gab und der junge Mann später sein Geständnis
widerrief. Bis zum höchsten bundesdeutschen Gericht wurde das
Urteil bestätigt.
Im Jahr 2008 glaubt ein ehemaliger Mitschüler Scarletts, diese
auf dem Münchner Marienplatz gesehen zu haben und schreibt
Polonius Fischer einen Brief. Der greift, wie erwähnt wurde
seine Frau gerade lebensgefährlich verletzt, diesen Fall
wieder auf, ermittelt gegen den Willen seiner Vorgesetzten und entdeckt
schwerste Ermittlungsfehler sowie Vertuschungen.
Friedrich Ani schreibt einfach brillant, er zwingt seinen Leser zur
Auseinandersetzung mit einer harten, einer brutalen und ungerechten
Realität. Und er hört nicht auf, an die
Menschlichkeit, an die
Liebe (an Gott?) zu glauben, auch wenn er seine
Zweifel so heftig äußert, dass es schmerzt. Ja,
seine Bücher sind keine leichte oder angenehme
Lektüre, sie tun weh, sind harter Lebenskampf. Dennoch
möchte man gern mehr davon haben. Nach dem ersten Buch der
neuen Reihe um Polonius Fischer schrieb und dachte der Rezensent noch,
sie würde ebenfalls zehn Bände umfassen, wie jene um
Tabor Süden. Doch Friedrich Ani will seinen ehemaligen
Mönch verlassen. Er vermisst seine Vermissten, wie er sagt,
und wird im nächsten Roman Tabor Süden, der
in Köln nach einer
längerfristigen Tätigkeit als Kellner bei einer
Detektei angeheuert hat und außerhalb der Polizeistrukturen
als Freiberufler agiert, wiederauferstehen lassen.
(Winfried Stanzick)
Friedrich
Ani: "Totsein verjährt nicht"
Gebundene Ausgabe:
Zsolnay, 2009. 288 Seiten.
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Taschenbuchausgabe:
dtv, 2011. 288 Seiten.
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Ein weiteres Buch des Autors:
"Der namenlose Tag"
Kriminalhauptkommissar Jakob Franck ist seit zwei Monaten im Ruhestand und
glaubt nun, ein Leben jenseits der Toten beginnen zu können. Vor zwanzig Jahren
hatte er sieben Stunden, ohne ein Wort zu sagen, der Mutter einer toten
Siebzehnjährigen beigestanden.
Jetzt wird der Kommissar von dieser Konstellation eingeholt: Ludwig Winther
tritt mit ihm in Kontakt; er ist der Vater des jungen Mädchens und Ehemann jener
Frau, der Franck so viel Aufmerksamkeit widmete.
Zwanzig Jahre sind vergangen, und der Vater glaubt noch immer nicht an den -
laut polizeilichem Untersuchungsergebnis eindeutig feststehenden - Selbstmord
der Tochter durch Erhängen: Seiner Meinung nach kann es sich nur um Mord
handeln.
Ex-Kommissar Jakob Franck macht sich also daran, die näheren Umstände ihres
Todes aufzuklären, "einen toten Fall zum Leben zu erwecken". Jakob Franck folgt
dabei seiner ureigenen Methode, der "Gedankenfühligkeit". Diese ist
unnachahmlich und unübertroffen bei der Lösung der kompliziertesten und
überraschendsten Fälle.
Mit diesem Roman startet eine Reihe um Ex-Kommissar Jakob Franck.
Friedrich Ani und seine Kunst der Konstruktion gewöhnlich-außergewöhnlicher
Kriminalistikrätsel; Friedrich Ani und seine Sprache, die vom Tod auf das Leben
melancholisch gelöste Perspektiven wirft - Friedrich Ani und seine Kunst
erreichen in seinem neuen Roman unvorhersehbare Dimensionen. (Suhrkamp)
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