Naja Marie Aidt: "Süßigkeiten"
Bittersüße
Geschichten
Stellt es nun eine neue Form von Emanzipation dar, oder handelt es sich
um eine moderne Spielart des Feminismus,
wenn Autorinnen einem
männlichen Ich-Erzähler das Wort erteilen, ihn in
seinen Gedanken und Gefühlen mehr oder weniger auf sein
Geschlecht reduzieren und sich dabei eines - gelinde gesagt -
urwüchsigen Jargons bedienen, wie man das in der neueren
Literatur immer häufiger findet? Ja, auch bei Naja Marie Aidt
stoßen wir auf diese eigentümliche Erscheinung des
Zeitgeistes. Und gleich die Auftaktgeschichte "Am Bulbjerg" droht den
Eindruck zu unterlaufen, den Verlagstext und internationale
Pressestimmen den Lesern vermitteln wollen, dass es sich
nämlich bei Aidts Geschichten um herausragende, zudem mit dem
"Nordischen Literaturpreis" ausgezeichnete literarische
Kunststücke handeln soll. Die Skepsis beim Rezensenten war
jedenfalls zu Anfang recht ausgeprägt. Worum handelt es sich
hier also, um zeitlose literarische Kostbarkeiten oder um eine billige
Anbiederung an den Zeitgeschmack?
Nun ist es gewiss leichter, mit der Zeitströmung zu schwimmen,
als sich sein Bett im Strom der Zeitlosigkeit zu bereiten. Und Naja
Marie Aidt mag auch vielleicht im Zeitstrom mitschwimmen, doch vermag
sie sich dabei von der großen Masse der sich dort tummelnden
Literaten abzusetzen. Fand ich auch die erste Geschichte ziemlich
enttäuschend, so konnten andere Erzählungen diesen
ersten negativen Eindruck bald revidieren. Und obwohl es sich in diesen
Geschichten immer wieder um Sex, Liebe, Familie etc. dreht, besitzen
Naja Marie Aidts "Süßigkeiten" doch eine recht
beachtliche thematische Streubreite.
In der Erzählung "Hochzeitsreise" begleiten wir eine
masochistisch veranlagte Frau zusammen mit ihrem Ehemann auf eine Reise
nach Griechenland, auf der allerdings nicht alles nach Plan
läuft. In "Schwarze Johannisbeeren" treibt der Nachbarjunge
Sodomie mit einem Schaf, während es in "Torben und Maria" um
Mutterliebe geht. Wir machen Bekanntschaft mit einer Mutter (Maria),
die ihren zweijährigen Sohn (Torben) prügelt und
gegen die Wand schleudert. Eine der beklemmendsten Geschichten dieses
Bandes. Der "Sternenhimmel" beleuchtet die Gefühle und die
erotischen Abenteuer eines bisexuell veranlagten Mannes. Diese hier
zitierten Geschichten - auf dem Rückseitentext des Buches als "Modernes
Liebesalphabet" deklariert - finden sich im ersten Teil des
Bandes. Für mich waren sie nicht in letzter Konsequenz
überzeugend, der Funke der Begeisterung wollte zu keiner Zeit
überspringen. In der zweiten Hälfte des Bandes finden
sich dann die besseren Geschichten. "Bunte Mischung" beispielsweise
könnte durchaus als Vorlage für einen Werbefilm mit
dem legendären "HB"-Männchen dienen. Die Autorin
schlüpft hier wiederum als Ich-Erzähler in die Rolle
eines Mannes, dem ein Einkauf im Supermarkt zum Desaster
gerät. "Eine Autofahrt" beschreibt eine Fahrt in den Urlaub
mit vier Kindern an Bord und all den Stresssituationen, die eine solche
Fahrt mit sich bringen kann. Über die Beziehung zwischen
Menschen und
Bäumen
gibt die Erzählung "Im
grünen Dunkel hoher Bäume" Auskunft, während
in "Unterbrechung" eine junge Asiatin einen etwas
ungewöhnlichen Asylantrag stellt. Und zu welch erstaunlichen
Dimensionen sich ein vermeintlich harmloser Mückenstich
(bezeichnenderweise sitzt er am Arsch) auswachsen kann, das erfahren
wir in der letzten Geschichte dieses Bandes.
Von Missverständnissen, Beziehungskrisen, Problemen des
Alltags also handeln Naja Marie Aidts Geschichten. Aus banalen
alltäglichen Konflikten entstehen mittlere Katastrophen, und
auf Schritt und Tritt lauert der Wahnsinn unter der dünnen und
rissigen Schale der Normalität. Das vielbeschworene
Familienidyll wird zu einem grotesken, erschreckenden und doch
irgendwie real erscheinenden Zerrbild der
Familie.
Nüchtern und brutal, wie sich die Realität nun einmal
darstellt, erzählt die Autorin ihre insgesamt
fünfzehn Geschichten in einer anschaulich-kraftvollen Sprache.
Ihren Personen mangelt es auch keineswegs an psychologischer
Glaubwürdigkeit (selbst den männlichen
Ich-Erzählern nicht). Nur bisweilen erscheint mir Naja Marie
Aidts Sprachfluss zu zerrissen und zerbröselt dann in
Satzklumpen, die auf die Dauer abstumpfend auf des Lesers
Aufmerksamkeit wirken. Ansonsten aber bewegt sich alles schon auf einem
respektablen literarischen Niveau.
Wenn die meisten dieser Novellen in meinem Gedächtnis auch
nicht von nachhaltiger Präsenz sein werden, unter dem Strich
ist dieser Erzählband "Süßigkeiten" doch
ein ertragreiches Buch für den Leser, obzwar die
Früchte nur selten von einer milden, angenehmen
Süße sind, wie es der Titel uns vielleicht
suggerieren mag.
(Werner Fletcher; 04/2009)
Naja
Marie Aidt: "Süßigkeiten"
(Originaltitel "Bavian")
Aus dem Dänischen von Peter Urban-Halle.
Sammlung Luchterhand, 2009. 208 Seiten.
Buch
bei amazon.de bestellen
Naja
Marie Aidt, 1963 in
Egesminde/Grönland geboren, wuchs in
Grönland
und Kopenhagen auf. 1991 hatte
sie ihr Debüt als Lyrikerin. Seither erschienen drei
Erzählungsbände, mehrere
Gedichtsammlungen und Theaterstücke. Sie erhielt zahlreiche
Auszeichnungen und
Preise.
Ein weiteres Buch der Autorin:
"Das Wasserzeichen"
In neun psychologisch verdichteten Erzählungen berichtet die
Autorin mit
diskretem Realismus
von
kleinen und großen Neurosen aus dem
Alltag. Durch einen
Wechsel zwischen Traum- und Alptraumzuständen werden
menschliche Beziehungen fühlbar,
die die Leser tief getroffen zurücklassen. (Suhrkamp)
Buch
bei amazon.de bestellen