Olivier Adam: "Nichts was uns schützt"
Die kümmerlichen Regungen des Lebens
Tragödien aller Art bestimmen zunehmend die Berichterstattung
der Medien und damit unseren Alltag. So konnte man in den letzten Monaten
immer wieder Artikel über den "Dschungel von Calais" lesen.
Dort, auf der französischen Seite des Ärmelkanals, wo
England nur 30 Kilometer entfernt liegt, strömen sie zusammen -
Auswanderer aus der Armut, Flüchtlinge vor Krieg und Elend,
Hoffnungsvolle, die ein besseres Leben in Europa suchen: Pakistanis, Afghanen, Kurden,
Afrikaner.
Halbe Kinder sind teilweise darunter, auf die Reise geschickt von ihrer
Familie, die darauf vertraut, dass sie sich durchschlagen und
irgendwann Geld nach Hause schicken. Sie haben wochen- und monatelange
Strapazen hinter sich. Sie sind hager und misstrauisch geworden. Sie
wollen nach England, weil es dort angeblich einfacher ist, schwarz zu
arbeiten. Viele haben bereits Kontakt zu Landsleuten, die es nach
Großbritannien geschafft haben. Wer sich auf einen Lastwagen
schmuggeln will, muss eine nicht unerhebliche Summe Geld an einen
Schlepper zahlen, der wiederum die Lastwagenfahrer besticht.
Aber die Grenze ist eine der am besten gesicherten in Europa. Der Hafen
von Calais ist mit seinen 2,50 Meter hohen Stacheldraht- und
Elektrozäunen sowie zahlreichen Kameras kaum noch erreichbar.
Die Lastwagen werden mit hochsensiblen Geräten
überprüft,
die Herzschläge entdecken oder den Kohlendioxidgehalt der Luft
messen, der menschlichen Atem verrät.
"Ein pappiger Film aus Alltag und Ärger"
Diesem Thema hat sich der vielfach preisgekrönte
französische
Schriftsteller Olivier Adam, der bereits mit "Am Ende des Winters" den
"Prix Goncourt" für Jugendliteratur erhielt und mit seinem
Debüt in der zeitgenössischen Belletristik, seinem
letzten
poetisch, starken Text "Klippen"
2005 auf der Liste der vier Finalisten stand, in seinem Buch "Nichts
was uns schützt" angenommen.
Als fragiles, bindendes Glied zwischen den Migranten und der immer
wieder brutal agierenden französischen Polizei hat Adam die
zerbrechliche Marie, eine psychisch labile junge Frau, gesetzt. Durch
Zufall wird sie eines Tages auf ein Flüchtlingslager
aufmerksam
und schließt sich als freiwillige Helferin an. Indem sie
Essen
und Kleidung an die illegal Eingereisten austeilt, findet die bis dato
ziel- und
antriebslos in den Tag hinein
lebende, depressive Hausfrau ("...
ein pappiger Film aus Alltag und Ärger überzog alles
um uns herum [...] machen wir uns nichts vor, für die wenigsten Leute
hat
das Leben viel mehr zu bieten.") Halt und so etwas wie innere
Bestätigung und einen Lebenssinn ("...
das alles hatte für mich eine verborgene Bedeutung, einen
unerklärlichen Sinn. Etwas Ernstes, Entscheidendes, das ich
nicht greifen konnte."). Doch zunehmend verliert sie in der Hilfe
für diese Gestrandeten die Kontrolle über sich und
vernachlässigt ihre Familie (Ehemann und zwei Kinder) mehr und mehr.
Feinfühlige, intelligente, doch niemals "pathosgetränkte Bilder"
Wie schon in Adams vorigem Roman "Klippen" berichtet ein
Ich-Erzähler - hier in Gestalt der Protagonistin Marie - in
einem lückenhaften Fluss der Erinnerungen von seinen Gedanken,
Erlebnissen und Empfindungen. "Das
Leben hatte Wände hochgezogen um uns herum, dahinter lief
etwas vorbei, uns reichte es gerade noch, den Kopf in den Nacken zu legen,
uns zu recken und ein ganz vages Bild zu erhaschen von dem, was uns
entging, was wir hier verpassten. Ich weiß nicht, was.
Wahrscheinlich nur etwas, das doch von vornherein gar nicht
für uns bestimmt gewesen wäre."
In seiner typisch einfachen, aber wunderschönen Diktion -
schnörkellos-karge, klare, von Zeit zu Zeit stakkatoartige
Sätze ohne Punkt und Komma, in beinahe puristischem Stil -
skizziert Olivier Adam seine Figuren. Eine simple Linie genügt
zur Beschreibung einer Situation von ungeheurer Dramatik. Diese
feinfühligen, intelligenten, doch niemals
"pathosgetränkten
Bilder" und rührseligen Dramatisierungen der seelischen
Disharmonien Maries, die nahe am Wahnsinn gelagert sind ("Ich
fühlte mich alleine und verloren, von innen durchgefroren,
völlig, unterkühlt")
oder aber der zeitweise brutalen, düsteren Skizzierung der
Flüchtlingsleben, wechseln sich mit Passagen
atmosphärisch
dichter Landschaftsbeschreibungen, der rauen, aber eindrucksvollen
Küste ab.
So entstehen vor dem inneren Auge des Lesers Bilder, Porträts
und
Landschaften, die man fast atmen und schmecken kann. Und immer wieder das
Meer als zentrales Element, als Magnet im Roman: "...
ein Gefühl des Verlorenseins. Des Versinkens. Eine Sintflut.
Das Ende der Welt."
Oliver Ilan Schulz wiederum ist es mit seiner Übersetzung aus
dem Französischen großartig gelungen, diese beinahe
visuelle, ungeheuer eindrucksvolle und nachhaltige Sprache des Autors dem
deutschsprachigen Publikum ohne Verlust zugänglich zu machen.
Fazit:
Gewalt,
Depression,
Migration,
Hilfe, Verzweiflung und Desillusionierung sind die Themen in Olivier
Adams Roman "Nichts was uns schützt". Erneut legt der
französische Autor ein Buch über die
Schwächsten vor,
Menschen, die nicht auf der Sonnenseite des Lebens stehen und die die
Härte des Lebens besonders schwer trifft.
Bedrückende, dunkle, aber ungeheuer substanzhaltige,
großartige Literatur.
(Heike Geilen; 03/2009)
Olivier Adam: "Nichts was uns schützt"
(Originaltitel "À l'abri de rien")
Aus dem Französischen von Oliver Ilan Schulz.
Klett-Cotta, 2009. 208 Seiten.
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Ein weiteres Buch des Autors:
"Gegenwinde"
Wie kann das Leben weitergehen, wenn der Mensch, den man am allermeisten liebt,
von heute auf morgen spurlos verschwindet? Olivier Adam erzählt eine intensive
und ergreifende Familiengeschichte, von Verlust und dem unbeirrbaren Glauben an
das Unmögliche.
Plötzlich ist Paul Anderen mit seinem neunjährigen Sohn und der
siebenjährigen Tochter allein - von seiner Frau fehlt jede Spur. Die kleine
Familie ist erschüttert und ratlos. Irgendwann ziehen die Drei aus der Stadt an
die bretonische Küste, wo Paul aufgewachsen ist und wo er Arbeit in der
Fahrschule seines Bruders findet. In der rauen, sturmgepeitschten Landschaft
versuchen sie, ein neues Leben zu beginnen. Doch in ihrem Schwanken zwischen
Hoffnung und Verzweiflung kommen sie zu keiner dauerhaften Ruhe. Und eines Tages
zeigt sich, was wirklich hinter dem rätselhaften Verschwinden ihrer Frau und
Mutter steckt ...
Sensibel und einfühlsam erzählt "Gegenwinde" von kleinen und großen
Menschen, die sich in einem schweren Ausnahmezustand einrichten müssen.
(Klett-Cotta) zur Rezension ...
Buch
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Leseprobe:
Kapitel I
Wie fing es an? Ich vermute, so: Ich bin allein
in der Küche und drücke die Nase ans Fenster,
dahinter ist nichts. Nichts. Wie
immer, eigentlich. Es leben so viele Menschen hier. Wir sind Millionen.
Diese
Orte ähneln sich so sehr, dass sie am Ende alle gleich
aussehen. Sie sind über
das ganze Land verteilt und wachsen zusammen, bilden ein Geflecht, ein
Netz,
eine Schicht, eine unbeachtete Parallelwelt. Millionen vollkommen
gleicher Häuser
mit blass, beige, rosa verputzten Mauern, Millionen
Fensterläden mit abblätternder
Farbe, schlecht eingepassten Garagentoren, hinter den Häusern
versteckten Gärtchen,
Schaukeln Barbecue-Grills Geranien Stiefmütterchen, Millionen
laufender
Fernsehgeräte in Conforama-Wohnzimmern. Millionen gesichtslose
Männer und
Frauen, unscheinbare, gleichförmige Existenzen. Der banale
Alltag moderner
Siedlungen. Gleichgültig, zurückgezogen, abgeschirmt,
ohne Zusammenhang.
Nichts: geparkte Autos, eine endlose Reihe von Fassaden und Kinder, die
im
kranken Licht spielen. Ein Irrgarten aus Straßen, die nach
nicht vorhandenen Bäumen
benannt sind. Die Straßenlaternen und ihre weißen
Lichtkegel in der Nacht, der
Asphalt und die Blumenbeete. Die Stadt, nutzlos und fern, die Stille am
helllichten Tag.
Nun gut, so fängt es an: Ich lehne mit dem Bauch
an der Arbeitsplatte, schaue ins Leere, ich halte eine viel zu
heiße Tasse Tee
in den Händen, er hat zu lange gezogen, ist fast schwarz und
ungenießbar. Ich
kann Tee sowieso nicht ausstehen. Vor dem Haus gegenüber
unterhalten sich zwei
Frauen. Sie tragen die Haare kurz oder zu einem Pferdeschwanz
zusammengebunden,
ihre Beine stecken in diesen hautengen Leggins, die es auf dem
Sonntagsmarkt
gibt. Sie warten darauf, dass ihre Männer von der Arbeit
heimkommen und ihre
Kinder von der Schule. Ich beobachte sie und sage mir: Das ist ihr
Leben, den
ganzen Tag auf ihre Kinder oder ihren Mann warten, und so lange
beschäftigen
sie sich mit irgendwas, um die Zeit totzuschlagen. Und seit ich meinen
Job
verloren habe, mache ich es eigentlich genauso. Es gibt Schlimmeres.
Der Job im
Supermarkt war ja auch nicht viel besser.
Ich trinke einen Schluck und gieße den Rest ins
Spülbecken, es läuft schnell ab und durch den Sog
spritzen ein paar Tropfen
auf die Innenwände des Beckens. Dieser Anblick macht mir immer
Angst. Das ist
totaler Unsinn, ich weiß. Aber wir sind doch umgeben von
Zeug, das uns ohne
Erklärung und Sinn zu verfolgen scheint, uns nachschleicht.
Die Stille zum
Beispiel. Wie immer füllte sie die Räume aus, nahm
mir die Luft. Ich konnte spüren,
wie sie mir das Blut in den Adern stocken ließ und meine
Lungenflügel mit
einem gigantischen Vakuum vollpumpte. Ein Krater ohne Lava. Eine
Wüste, ein
verdammtes gefrorenes Meer.
Ich ging aus der Küche rüber ins Wohnzimmer.
Oder machte ich eine Runde durch die Schlafzimmer? Ich weiß
es nicht mehr, es
ist ganz egal, sagen wir einfach, ich war im Wohnzimmer. Ich blieb
nicht lange
dort. Es ist auch kein Raum, über den es viel zu sagen gibt:
dunkle Vitrinen,
zwei Fernsehsessel, ein Sofa mit einem afrikanisch gemusterten Bezug
und vor der
Balkontür ein Wäscheständer, der vollhing
mit T-Shirts, Unterhosen, Hosen und
Socken. Auf dem Boden lagen Spielsachen und auf dem Couchtisch
Malhefte,
Filzstifte und Päckchen mit Stickern für die
Sammelalben. Ich räume immer
erst am Abend auf, kurz bevor Stephane nach Hause kommt. Er nennt das
Unordnung.
Ich finde, es bringt hier mehr Leben rein. Stephane ist Schulbusfahrer.
Als wir
uns kennenlernten, war er achtzehn. Er spielte Fußball. Er
kam aus dem
Trainingslager und war gerade in den Mannschaftskader aufgenommen
worden. Ich
ging jede Woche ins Stadion. Ich saß frierend auf der
Zuschauertribüne und
hoffte, dass er endlich spielen würde, dass man ihn wenigstens
ein Mal
einwechselt. In seinem rot-goldenen Trainingsanzug starrte er aufs
Spielfeld und
kaute an den Fingernägeln. Manchmal trafen sich unsere Blicke,
dann warf ich
ihm einen Kuss zu oder schnitt eine Grimasse, damit er sich entspannte
oder sich
ein Lächeln abrang. Er wurde nie eingewechselt. Nie. Am Ende
hatte er es satt,
das ist doch für'n Arsch, sagte er, ich habe den richtigen
Moment verpasst, das
Warten
ist sinnlos, die lassen mich nicht einsteigen, ich höre auf,
mache den
Busführerschein, ich werde die Jungs aus der Nachbarschaft
trainieren und die
Kumpels schaue ich mir im Bollaert-Stadion an, damit kann ich sehr gut
leben.
Seitdem rührt Stephane keinen Ball mehr an, außer er
spielt mal mit den
Kindern am Strand oder auf den Grünflächen vor dem
Haus. Ich glaube nicht,
dass er es jemals vermisst hat.
Ich ging ins Wohnzimmer, das Bügelbrett lehnte
an der Wand und das glühende Bügeleisen stand auf dem
Boden, die Wäsche lag
im grünen Plastikkorb. Wenn Stephane da gewesen wäre,
hätte er mich
angeschnauzt, Das ist ja völlig verantwortungslos,
dass du
das Bügeleisen anlässt, die Kleine könnte
sich verbrennen, hör doch, so
was in der Art. Was soll denn schon passieren? Außer ich
drücke mir das Bügeleisen
so lange ins Gesicht, bis es mir Haut und Knochen versengt. Ich
hätte ihn
einfach eine Weile schimpfen lassen und so getan, als könne
ich ihn kaum hören,
dann hätte ich mir eine Lucky angesteckt und mit geschlossenen
Augen den Rauch
eingesogen. Aber er war nicht da, also hielt ich mich von Tisch und
Bügeleisen
fern, als wären sie wilde Tiere, irgendwie bedrohliche
Bestien. Trotzdem, früher
oder später würde ich anfangen müssen. Ich
nahm mir eine Zeitschrift vom
Couchtisch und blätterte zerstreut darin, schöne
Bilder, hübsche Sängerinnen,
dieser ganze Kram ist mir egal. Aber es gab nichts anderes, und mit
Büchern
konnte ich noch nie etwas anfangen: Ich schlage sie auf, lese ein paar
Zeilen,
dann schweifen meine Gedanken ab. Gala, Voici,
diese ganzen Drecksblätter,
die brachte Stephane mir jeden Abend stapelweise mit. Er sagte, sie
sollten mich
ablenken. Ganz ehrlich, ich habe nie verstanden, von was.
Ich weiß nicht, warum ich davon erzähle.
Wahrscheinlich, weil das mein Leben war. Mehr nicht: einmal in der
Woche das
Jobcenter und die Anzeigen, die Arbeitslosenhilfe am Anfang des Monats,
die
Kinder baden Hausaufgaben machen Essen kochen Geschirr spülen,
die Wäsche und
der Haushalt, Einkaufen bei Ed oder bei Carrefour , wenn es mich bei Ed
zu sehr
runterzog und ein bisschen Geld übrig war, das kam aber immer
seltener vor,
ein- oder zweimal im Jahr ins Kino, sonst
Fernsehen
und damit basta, machen wir
uns nichts vor, für die wenigsten Leute hat das Leben viel
mehr zu bieten.
Lise stürmte ins Wohnzimmer. Wenn sie da war,
wirkte sofort alles heller, Luft und Licht ein paar Grad
wärmer. Mit ihren großen
blauen Augen ist sie schön. Ein Engel, eine Prinzessin. Sie
legte sich zu mir
aufs Sofa, drückte auf die Fernbedienung und der Film fing an,
Arielle die
Meerjungfrau, glaube ich, ich schaute sowieso nicht richtig
hin, ich
versuchte es nicht einmal, ich verliere immer nach ein paar Minuten
gleich den
Faden.
"Mama, sei still."
Ich summte vor mich hin. Immer öfter summte ich
vor mich hin. Ohne es zu merken, im Auto, beim Essen, überall
fing ich plötzlich
damit an, ohne es recht zu bemerken. Lise konnte das nicht ausstehen.
"Hör auf", sagte sie. "Das nervt
... Ich kann den Film nicht verstehen."
Ich entschuldigte mich und küsste ihr Haar, das
nach Wald, Harz und Rosen
roch. Ich schlang die Arme fester um sie und versuchte mich auf die
Geschichte
zu konzentrieren, die munteren Fische die rote Krabbe und all das Zeug,
aber
sehr schnell verschwammen sie einfach zu Formen und Bewegungen, zu
blauen,
gelben und smaragdgrünen Flecken, dazu diese klebrigen,
rührseligen Lieder.
Nein, das sage ich jetzt nur so. Eigentlich mochte ich diese Lieder.
Sie hatten
etwas Sanftes und Versöhnliches. Ein bisschen wie Bonbons oder
Schokoriegel.
Manchmal wurde es zu viel, dann schaltete ich den Fernseher aus und
Lise fing an
zu quengeln, sie fand das unfair. Aber diesmal nervte es mich nicht.
Ich ließ
mich vom Kitsch und von Lises Wärme einlullen.
Als der Wecker klingelte, brauchte ich eine
Ewigkeit, bis ich wieder zu mir kam, ich war eingeschlafen und die
roten Ziffern
der Uhr sagten mir überhaupt nichts. Der schrille Ton fiepte
noch eine ganze
Weile weiter. Lise sah mich komisch an, sie fragte sich bestimmt, warum
ich
nicht aufstand, und ich glaube, ich selbst fragte mich das auch.
Schließlich hörte
es auf, ein letzter Piepton und dann nichts mehr, bis auf die Stimmen
des
Zeichentrickfilms und das Brummen des Kühlschranks.
"Lucas kommt zu spät zu seiner Stunde", sagte Lise.
Es fiel mir erst wieder ein, als sie mir das
sagte. Es war Donnerstag, achtzehn Uhr: Lucas' Tennisunterricht. Jede
Woche
hatte er zur selben Zeit seinen Unterricht, und jede Woche war es
dasselbe, ich
hatte es völlig vergessen. Ich habe keine Ahnung, warum ich es
nie schaffte,
solche Sachen in meinen Schädel zu kriegen. Das geht schon
lange so: Alles löst
sich auf, verschwimmt und verschwindet. Das geht schon sehr lange so.
Stephane kam ins Wohnzimmer. Ich musste ihn nicht
sehen oder hören, um zu wissen, dass er da war, ich
spürte seine Anwesenheit
im Haus, im Raum. Als wäre die Luft plötzlich anders.
Ich tat nichts, schaute
nicht zu ihm hoch, seine Gesten kannte ich zur Genüge, in
meinem Kopf liefen
die Bilder ab, wie er die Krawatte löste, den obersten Knopf
seines Hemdes öffnete,
die Jacke über den Stuhl hängte, den
Kühlschrank aufmachte und sich eine
Flasche Amstel herausnahm, wie er erst Lise auf die Stirn
küsste und dann mich
auf den Kopf.
"Wie war dein Tag?"
Wie jeden Abend zuckte ich mit den Schultern, ich
antwortete nicht, und er antwortete auf seine eigene Frage, so als ob
er sie
sich selbst gestellt hätte. Ich hörte ihm genauso
wenig zu wie sonst, wenn er
die Ereignisse seines Tages herunterbetete, die kümmerlichen
Regungen des
Lebens draußen: Der Bus war stecken geblieben, die
aufgedrehte Heizung ließ
sich nicht herunterstellen, die schreienden Kinder und der Asthmaanfall
des
kleinen Gohier, der Witz über den Zyklopen, den ihm sein
Kollege Paulo in der
Mittagspause erzählt hatte, ein Unfall im Kreisverkehr von
Chemin-Vert direkt
vor seinen Augen, am Ende war es gar nicht so schlimm, ein kaputter
Roller, Schürfwunden.
Er machte den Gürtel auf und blieb lange vor der
Balkontür stehen. Immer wieder fuhr er sich mit der Hand
über den Nacken.
Wonach er wohl Ausschau hielt? Da gab es nichts zu sehen. Ein
Stückchen lehmige
Erde, Unkraut. Das nackte betonierte Fundament einer Terrasse,
Gartenmöbel aus
grünem Plastik. Ein tragbarer Grill, noch nie benutzt, kein
Holz da, keine
Kohle, keine Sonne, keine Lust. Mitten auf dem Grundstück
stand die verrostete
Wippe, die wir von einem Kollegen bekommen hatten, sie war total
hinüber, die
Sitze nicht mehr zu gebrauchen. Am Rand standen winzige, gelbliche
Thujen.
Stephane seufzte müde, und es war nicht schwer zu erraten,
woran er dachte. Er
brauchte kein Wort zu sagen, mir nicht den geringsten Vorwurf zu
machen, ich
konnte trotzdem seine Stimme hören: der Garten die Zimmer das
ganze Haus nach
all dieser Zeit, ich könne mich doch aufraffen, ich
hätte doch sonst nichts zu
tun. Und dann die Kredite, die viel zu hohe Miete, immer zu wenig Geld,
die
Monate, in denen wir mit Müh und Not über die Runden
kamen. Verdammte Scheiße,
wir waren gerade erst in dieses verfluchte Ding gezogen, was hatte mich
denn
geritten, warum war ich derart ausgerastet? Ich hatte dieses
Häuschen doch
gewollt, oder? Ich hielt es doch angeblich in der Mietwohnung nicht
mehr aus,
angeblich sei es besser für die Kinder, für jedes
sein eigenes Zimmer einen
Garten Spielkameraden, und bei all den Nachbarn in unserem Alter
würden wir
bestimmt Freunde finden, wir wären angeblich weniger allein,
wir würden uns
ein schönes Leben machen, nichts Großes, ein nettes
Leben halt, abends im
Freien Aperitif trinken, am Wochenende draußen Mittag essen,
ein bisschen
Gartenarbeit, warum nicht mit den Händen in der Erde
wühlen Blumen pflanzen,
sich im Sommer auf Liegestühlen fläzen und Bier
trinken. Das waren die Dinge,
die ihn beschäftigten. Ich stand auf und schmiegte mich von
hinten an ihn.
Obwohl ich eigentlich noch beleidigt war. Obwohl wir uns erst am Tag
davor
gestritten hatten, eigentlich grundlos, wie immer wegen irgendwelchem
Blödsinn,
den wir gleich wieder vergaßen. Ich vermute, soweit war es
zwischen ihm und mir
gekommen. Wir liebten uns, aber ein pappiger Film aus Alltag und
Ärger überzog
alles um uns herum. Das kennt man ja. Jedenfalls berührte ich
mit meinen Lippen
seinen Nacken, und meine Hände fuhren in seine dichten
schwarzen Brusthaare.
"Hast du an meine Hemden gedacht?"
Seine Hemden. Die hatte ich völlig vergessen.
Dabei hatte ich an diesem Tag sonst kaum was zu erledigen gehabt.
Nichts
Wichtiges. Nichts, woran ich hätte denken müssen. Was
hatte ich den ganzen Tag
getan? Ich war durchs Haus gegangen, hatte Nägel gekaut,
gegen
die Angst gekämpft,
die sich in meinen Bauch und meine Brust fraß, ich hatte
gegen die Tränen
angekämpft.
"Scheiße, Marie ... Ich verlange doch
wirklich nicht viel von dir." (...)