Jürgen Osterhammel: "Die Verwandlung der Welt"

Eine Geschichte des 19. Jahrhunderts


Etwas ungläubig hält man das im April 2009 bei C. H. Beck erschienene "Die Verwandlung der Welt" vor, während und nach der Lektüre in der Hand. Etwas mehr als 1300 Seiten reinen Inhalts hält man da (mit fast zwei Kilogramm Gewicht) in den Händen, wozu sich noch einmal mehr als hundertfünfzig Seiten Anmerkungen, Literaturverzeichnis und verschiedene Register gesellen. Der Autor des Ganzen, Jürgen Osterhammel, ist ein deutscher Historiker, und seit zehn Jahren hat er den Lehrstuhl für Neue und Neueste Geschichte an der Universität Konstanz inne.

Vorweg: Ich bin keine Historikerin, sondern eine schlicht historisch interessierte Person mit beruflich gänzlich anderem Umfeld. Und als solche irritierte mich noch vor der Lektüre das wirklich jung wirkende Foto des Autors. Eine kurze Recherche ergab, dass Herr Prof. Dr. Osterhammel 1952 geboren wurde. Und mir drängte sich die Frage auf, wie man es schafft, so vergleichsweise jung zu sein und ein solches Werk geschrieben und publiziert zu haben? Eine unglaubliche Leistung - doch letztlich zählt Qualität statt Quantität, also sollte vor den Jubelrufen die Lektüre stehen:

Ein Blick in das Inhaltsverzeichnis zeigt, dass Osterhammel sein Werk eher ungewöhnlich aufgebaut hat. Zunächst ist da der Bereich "Annäherungen", worin die zeitliche und geografische Definition sowie die Quellenlage zum neunzehnten Jahrhundert dargelegt werden. Diese Umgrenzungen nehmen bereits 180 Seiten des Buches ein, sind allerdings keineswegs allzu trocken zu lesen. Im Gegenteil, hier dämmerte mir bereits, dass meine Erwartungen an dieses Buch nicht in der Form, wie ich es angenommen hatte, erfüllt werden würden.

Für mich begann das neunzehnte Jahrhundert schlicht am 1.1.1801 und endete am 31.12.1900. Naja, nicht ganz so schlicht. Die Französische Revolution von 1789 sortierte ich durchaus noch in dieses Jahrhundert hinein. Grundsätzlich jedoch war mein Blickwinkel von vornherein ein wohl typisch europäischer. Ich erwartete hauptsächlich Informationen zur Industrialisierung, zur Arbeiterbewegung und Karl Marx, zu Bismarck und vielleicht Napoleon Bonaparte, hoffte zudem auf ein paar literarische Verweise, etwa zu Gerhart Hauptmann oder Émile Zola, Thomas Mann und vielleicht Jane Austen. Literarisch wurde ich auch schnell fündig, denn im Rahmen von "Gedächtnis und Selbstbeobachtung", einem Unterkapitel des erwähnten ersten Kapitels, das sich mit der Quellenlage beschäftigt, gibt es ab Seite 48 einiges über "literarischen Realismus" zu lesen, allerdings in geballter Form. Und auch das überrascht, denn bei einem Werk dieses Umfangs erwartet man quasi schon weitschweifige Erläuterungen und zahllose Wiederholungen. Dem entspricht "Die Verwandlung der Welt" jedoch nicht.

Schon in diesem ersten Bereich des Buches wird klar, dass die Geschichte des neunzehnten Jahrhunderts selbstverständlich eine weltumspannende Geschichte ist, in der die zuvor erwähnten Schlagworte ihren Platz haben, jedoch längst nicht so wichtig sind, wie man hierzulande gemeinhin annimmt.

Der zweite und dritte Bereich des Buches, "Panoramen" sowie "Themen", breitet dann die Geschichte des Jahrhunderts selbst aus. Geordnet ist diese jedoch nicht nach Dekaden oder anderen zeitlichen Aspekten und auch nicht nach bestimmten Ereignissen, sondern nach Schlagworten wie "Sesshafte und Mobile", "Lebensstandards", "Imperien und Nationalstaaten", "Revolutionen", "Energie und Industrie", "Arbeit", "Netze", "Wissen", "Zivilisierung" und "Ausgrenzung" und anderen mehr.

Unter diesen Überschriften beschreibt und erläutert Osterhammel die Entwicklungen und Gegebenheiten in unterschiedlichen Ländern und Kontinenten, zeigt Kontraste und Parallelen auf, beschreibt Grundlagen, Potenziale, Auslöser und Hinderungsgründe, kurzum alles, was thematisch - und hier natürlich auch historisch und geografisch - interessant ist.

Ich wünschte, solch ein Buch hätte jemand schon viel früher geschrieben und mich damit umso eher in den Bann geschlagen. Sicherlich, "Die Verwandlung der Welt" ist als Schmöker extrem unhandlich, woran auch die hochwertige, gebundene Ausgabe an sich und das Lesebändchen nicht viel ändern. Und dennoch ist die Herangehensweise an ein Jahrhundert so neu und um ein Vielfaches interessanter als eine Aneinanderreihung von Zahlen und Fakten im Sinne von Siegern und Verlierern diverser Schlachten. Durch Osterhammels Herangehensweise schafft er etwas wirklich Neues - ein vergleichbares Werk ist mir jedenfalls nicht bekannt - und trägt der globalisierten Welt Rechnung.

Obwohl durchaus fundiert und wissenschaftlich, mit vielen aufgeworfenen Fragen und den entsprechenden Hinweisen und Antworten, lässt sich "Die Verwandlung der Welt" leicht und flüssig lesen, weil die Komplexität der durch den Autor verwendeten Aspekte das Buch zu etwas sehr Lebendigem machen, das nicht nur zu informieren, sondern auch zu unterhalten versteht. Denn was wirklich spannend an Geschichte ist, sind die soziologischen Aspekte, die es ermöglichen, eine Zeit aus sich heraus zu sehen - wie übrigens schon meine damalige Geschichtslehrerin Max Weber zitierte. Und genau das, Ereignisse und vor allem Entwicklungen aus ihrer Zeit heraus zu betrachten und zu beobachten, hat Osterhammel mit "Die Verwandlung der Welt" konsequent, neutral und weltumspannend in die Tat umgesetzt.

Für mich ein wirklich sehr informatives, unterhaltsames, den Horizont deutlich erweiterndes und ungemein wichtiges Buch zur Geschichte des neunzehnten Jahrhunderts, das man auch als Laie unbedingt lesen sollte. Und davon abgesehen auch eine unglaubliche Leistung im Hinblick auf Recherche, Belege und Ausarbeitung, mit der Osterhammel sich sicherlich einen Platz im Historikerhimmel verdient hat.

(Tanja Thome; 05/2009)


Jürgen Osterhammel: "Die Verwandlung der Welt. Eine Geschichte des 19. Jahrhunderts"
C.H. Beck, 2009. 1568 Seiten.
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Noch ein Buchtipp:

Horst G. Ludwig: "Genre und Landschaft in der Kunst des 19. Jahrhunderts. Gemälde und Graphiken"

Die zweite Publikation zu einer süddeutschen Privatsammlung vervollständigt den im ersten Band begonnenen Blick auf die Entwicklung der deutschen Malerei im 19. Jahrhundert. Schwerpunkt der aus Gemälden, Zeichnungen und Aquarellen bestehenden Sammlung
bildet die Kunst der Münchner Schule. Vertreten wird sie unter anderem durch Spitzweg, Piloty, Defregger und Sperl. Besonders beachtenswert sind dabei die bekannten Werke Spitzwegs "Friede im Land" und "Der verliebte Provisor", die beide Glanzlichter des späteren Biedermeier sind, sowie ein seltenes Genrebild von Karl Theodor von Piloty, dem berühmten Lehrer der Münchner Akademie. Defregger, einer seiner Schüler, ist in der Sammlung mit dem Hauptwerk "Die Faustschieber" vertreten, ein typisch narratives Bild mit Tiroler Sujet. Ebenso eindrucksvoll sind ein Blumenstillleben aus den achtziger Jahren sowie zwei weitere szenische Werke von Johann Sperl.
Neben den Malern der Münchner beherbergt die Sammlung auch Künstler der Düsseldorfer Schule. Zu nennen sind hier die Brüder Achenbach und Franz Xaver Winterhalter, der bekannte Porträtist der europäischen Königshäuser, dessen Werk "Il dolce far niente" von 1836 eine bedeutende Neuerwerbung der Sammlung darstellt.
Abgerundet wird die Zusammenstellung durch Künstler, die außerhalb Deutschlands wirkten. Darunter befinden sich die Stilllebenmaler Josef Lauer und Franz Xaver Petter aus Wien sowie die russischen Künstler Franz von Roubaud und der durch seine Marinebilder bekannte I. K. Aivazovski. (Hirmer)
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