Matthias Zschokke: "Auf Reisen"


Reflektierende Fantasien

"Wenn jemand eine Reise tut, so kann er was erzählen. Drum nähme ich den Stock und Hut und tät das Reisen wählen." Diese wohl allseits bekannten Worte prägte Matthias Claudius (1740-1815), Schriftsteller und Herausgeber des "Wandsbecker Boten", dessen Gedichte von Franz Schubert bereits im 18. Jahrhundert vertont wurden. 1926 greift auch Kurt Tucholsky diese Zeilen auf.

Viele Autoren erkannten das Vergnügen und den positiven Bildungseffekt einer Reise. Man bekommt eine andere Perspektive - wie mit der Lupe auf den Alltag:
"Die Reise gleicht einem Spiel; / es ist immer Gewinn und Verlust dabei, / und meist von der unerwarteten Seite; / man empfängt mehr oder weniger, als man hofft. / Für Naturen wie die meine ist eine Reise unschätzbar: / sie belebt, berichtigt, belehrt und bildet" oder "Das ist das Angenehme auf Reisen / dass auch das Gewöhnliche / durch Neuheit und Überraschung / das Ansehen eines Abenteuers gewinnt", wusste schon Johann Wolfgang von Goethe zu berichten.

Reiseberichte wurden zu einer weit verbreiteten Literaturgattung, die heutzutage leider ein bisschen ins Abseits geraten ist und eher ein Nischendasein fristet. Nur im angelsächsischen Raum erfreut sie sich noch großer Popularität.

Das nahezu Banale wird zur angenehmen Köstlichkeit
Der Schweizer Matthias Zschokke knüpft an diese große Tradition an. Er hat seiner Wahlheimat Berlin den Rücken gekehrt und berichtet dem Leser in erfrischender und spritziger Art und Weise aus den unterschiedlichsten Zipfeln der Welt. Wohltuend jenseits der gängigen Reiseführer und der typischen Haupttouristenströme wandelt er, erzählt das nahezu Banale. Alltägliches fasziniert ihn, eine Sehnsucht nach dem Anderen treibt ihn. Und die weiß er einmal spannend, dann wieder unterhaltsam und witzig, gelegentlich auch einmal verärgert zu vermitteln. Persönliche Stimmungen und Empfindungen leiten ihn und machen seinen Erzählfluss zu einer sehr persönlichen, aber nicht minder angenehmen Köstlichkeit.

Er nimmt den Leser auf eine Reise quer durch Deutschland von Berlin, nach Weimar oder Baden-Baden bis in die Schweiz mit, er macht Abstecher nach Porto, Straßburg, in das Elsaß, badet wohlig im Budapester Rudás, einer "Mischung aus Schlachthof, Weinkeller und Moschee (...) Das Zentrum bildet ein großes Becken, eine Art Teich, in dem etwa ein Dutzend Männer liegen, ganz ruhig, wie Wasserbüffel im Schlamm während der Mittagshitze" oder genießt den maroden Konzertsaal.

Aber es trägt ihn auch weiter hinaus. So ist er äußerst angetan von der arabischen Kultur in Amman: "Bislang begeistert mich fast alles, obwohl eigentlich wenig dazu angetan ist, einen zu begeistern. (...) Jeder Europäer sollte dringend dann und wann nach Arabien, um sich daran zu erinnern, wie Menschen miteinander umgehen könnten, wenn sie nur wollten. (...) Jeder Tag unter ihnen ist eine Erholung fürs Gemüt und für die Seele."

Dezenter Spott, gepaart mit Gedanken zum Leben
Zuweilen lobt er die besonders gute Qualität von Matratzen und gibt Übernachtungstipps oder Empfehlungen für besondere lukullische Tafelfreuden. Dezenter Spott, ein Schuss Selbstironie oder aber Gedanken zum Leben und Sein wechseln sich wohltuend ab.

Immer wieder schwenkt er nach New York ab, wo er - dank eines Stipendiums - längere Zeit verbrachte, ist fasziniert, ja hypnotisiert von dieser Stadt und deren unbegrenzten Möglichkeiten. "Eine atemberaubend unterhaltsame Konzentration von Alltag, eine gigantische Ansammlung von Schutt, Müll, Gerümpel, Kristallglas und Stahl, aus dem permanent neues Leben sprießt. Hier (gewesen) zu sein ist ein Freude, auch wenn man dabei in wenigen Wochen um Jahre altert."
Schmunzelnd aber liebevoll berichtet er von der beinahe grotesken Neigung zur Panik ("Kaum fällt eine Flocke Schnee, fahren Katastrophenschutzpanzer los mit winselnden und jaulenden Sirenen, ein hysterisches Gedröhn von wagnerscher Opulenz."), verfällt in einen fast suchtartigen Kaufrausch und ist begeistert von der Natürlichkeit der MoMa.

Da fällt die Ankunft in der Wahlheimat eher ernüchternd aus. "Kaum in Berlin gelandet, kam ich mir wieder 'ziemlich ähnlich vor', fiel in meinen alten Trott zurück und begann von neuem meine Runden durch die vertraut grauen, stillen, leeren Straßen zu drehen."

Fazit:
Zschokkes einmal flüchtige, dann wieder tiefere Eindrücke sind eine wohldosierte Melange aus typischen Reiseerlebnissen, gepaart mit ganz persönlichen Empfindungen und Impressionen seiner reflektierenden Fantasie. Auch wenn das nachfolgende Zitat aus dem Buch der arabischen Musik gilt, so kann es doch uneingeschränkt auf den Duktus des Autors angewandt werden: "Auf Reisen" ist eine Lektüre, die "mehr ein Suchen, ein Schwanken zwischen Halb-, Viertel- und Achteltönen, ein taumelndes Sichverlieren in Melismen [ist]. Man muss hören und ruhig werden, warten, nachhorchen, und irgendwann wird man aufgenommen in den Fluss und gerät dann oft in eine wohltuend weiträumige, offene Melancholie."

(Heike Geilen; 12/2008)


Matthias Zschokke: "Auf Reisen"
Ammann Verlag, 2008. 240 Seiten.
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Matthias Zschokke wurde 1954 in Bern geboren. Aufgewachsen im Kanton Aargau, besuchte er von 1970 bis 1974 das Gymnasium in Biel. Von 1974 bis 1977 Besuch der Schauspielschule in Zürich. Von 1977 bis 1980 hatte er ein Engagement als Schauspieler am Schauspielhaus Bochum.