Jacques Le Goff: "Wucherzins und Höllenqualen"

Ökonomie und Religion im Mittelalter


Der Wucherer als Wegbereiter des Kapitalismus

Das Verleihen von Geld gegen Zinsen galt im Mittelalter als verwerflich, denn die Menschen durften Gewinn nur durch Arbeit erzielen, und jene, die das Geld für sich arbeiten ließen, während sie schlicht und einfach nichts taten, gar schliefen, waren der kirchlichen und auch der weltlichen Obrigkeit ein Dorn im Auge. Arbeit brachte Erlösung, weil Arbeiten bedeutete, Gottes Strafe für den Sündenfall anzunehmen und Buße zu tun.

In seinem Essay geht Jacques Le Goff vor allem auf die Reaktion der Kirche gegenüber den Wucherern ein. Dem Wucherer drohte die ewige Verdammnis, wenn er nicht alles, was er an Erträgen aus seinen Geschäften erworben hatte, seinen ehemaligen Schuldnern zurückgab. Selbstverständlich waren die meisten Geldverleiher nicht dazu bereit, vor allem, wenn ihnen und ihren Familien dadurch Armut drohte.

Le Goff zitiert zahlreiche Quellen, die sich mit dem Wucher und der Person des Wucherers befassen, und interpretiert sie. Eine bedeutende Rolle spielt der Tod in diesen Quellen, wollten andere Menschen doch oft beobachtet haben, wie Wucherer vom Teufel bedroht oder leibhaftig von ihm geholt wurden, oder es entspannen sich Legenden um ihre Leichname.

Mit der Einführung des Fegefeuers in den katholischen Glauben erhielt auch der Wucherer eine gewisse Chance, der ewigen Hölle zu entgehen, sofern es zur Buße durch ihn selbst oder, nach seinem Ableben, durch Angehörige kam. Mit der Zeit wurde der Geldverleih mehr und mehr akzeptiert, die mittelalterliche Wirtschaft veränderte sich, und, wie Le Goff und der Verfasser der sich an den Essay anschließenden Einführung, Johannes Fried, es ausdrücken, man kann den Wucherer als ersten Wegbereiter des Kapitalismus bezeichnen.

Le Goff beweist auch in diesem Essay seine ganz individuelle Art, an das Mittelalter heranzugehen. In seiner Darstellung und Interpretation wird diese Zeit sehr lebendig, und dem Leser erschließen sich die Ökonomie, das religiöse und das soziale Leben des Mittelalters auf äußerst differenzierte Weise. Nicht zuletzt tragen hierzu die zahlreichen ausführlich zitierten Quellen bei, die selbst dem weniger mit dem Mittelalter vertrauten Leser einen interessanten Eindruck vom Weltbild des mittelalterlichen Menschen in Bezug auf den Wucher geben. Selbstverständlich versteht es Le Goff, seiner Leserschaft durch seine Auslegung der Quellen weitere und tiefer gehende Impulse zu geben und sich nicht unmittelbar erschließende Zusammenhänge aufzuzeigen.

Der Wucherer, ob Christ oder Jude, präsentiert sich als jemand, der gehasst, dennoch aber benötigt wurde: ohne ihn keine Investitionen. Verblüffen mögen uns die auch in Johannes Frieds Einführung erwähnten, teils enormen Zinssätze - 33 Prozent waren offensichtlich nicht selten, dreistellige Zinssätze kamen durchaus vor, doch gab es sowohl hierin als auch bezüglich der Akzeptanz, nicht selten zudem die Bestrafung des Wucherers betreffend regional und zeitlich gewaltige Unterschiede.

Während Le Goff sich mit dem Spannungsfeld zwischen Wucher und Religion auseinandersetzt, geht Johannes Fried vor allem auf den politischen Kontext während der Zeitläufte ein, sodass das Buch insgesamt einen bemerkenswert vielseitigen und umfassenden Eindruck vom "Kreditwesen" des Mittelalters vermittelt. Johannes Fried widmet sich zudem der Rolle der Juden und der Christen in diesem einträglichen Geschäft und zeigt auf, wie der Neid christlicher Konkurrenten zu Konflikten, zu Verfolgungen und Vertreibungen der Juden führte.

Das Buch bietet interessante Erkenntnisse in Bezug auf die Entwicklung und Hintergründe der Wirtschafts- und Kulturgeschichte des Mittelalters und beleuchtet einen meistens wenig beachteten, für das Geldwesen des Spätmittelalters und der Neuzeit jedoch bedeutsamen Aspekt.

(Regina Károlyi; 04/2008)


Jacques Le Goff: "Wucherzins und Höllenqualen. Ökonomie und Religion im Mittelalter"
Aus dem Französischen von Matthias Rüb, mit einem Nachwort von Johannes Fried.
Klett-Cotta, 2008. 205 Seiten.
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