Christa Wolf: "Kassandra"

Erzählung


Kassandra, als Tochter des Priamos geboren, sucht aus verschiedenen Gründen das Priesterinnenamt und erhält zusammen mit diesem Amt auch einen Traum, in welchem ihr Apoll als Gott aller Seher erscheint. Weil sie aber im Traum keinen Verkehr mit ihm wünscht, spuckt er ihr in den offenen Mund, und so erhält sie zwar die Gabe des Sehens, nicht aber die Überzeugungskraft, die andere Menschen dazu bringen könnte, ihr das Gesehene auch zu glauben. Dies hat, wie wir von Homer wissen, weitreichende Konsequenzen sowohl für Kassandra, als auch für Troja.

In Christa Wolfs Erzählung befindet sich Kassandra nach dem Fall Trojas auf dem Weg zur Hinrichtungsstätte in Griechenland, wo verschiedene Gefangene von den siegreichen Griechen in den Tod befördert werden. Während sie nun also zur Hinrichtungsstätte kommt, lässt sie ihr Leben bis zu diesem Punkt vor ihrem inneren Auge Revue passieren, und so wird es auch dem Leser dargestellt.

Aus Kassandras Sicht, die in der "Ilias" ja eher eine kleinere Nebenrolle hat, entwickelt sich die Geschichte des Krieges zwischen den Troern und den Griechen ganz folgerichtig und zwar in erster Linie aus Fehlentscheidungen der troerischen Regierung - also auch ihres Vaters. Immer wird sieht sich Kassandra infolge der Uneinsichtigkeit beider Seiten frustriert, die anscheinend offenen Auges in ihr Verderben rennen. Dabei scheinen in erster Linie die Frauen unter den Umständen zu leiden zu haben, und zwar die "normalen" Troerinnen, wie auch die zwischenzeitlich auftretenden Amazonen.

Dass Krieg, auch in der ruhmreichen Antike, oft vermeidbar ist, und dass die Zivilbevölkerung besonders darunter leidet, ist mittlerweile allgemein bekannt. Sollten diese Gedanken für jemanden neu sein, kann er sich anhand der in "Kassandra" gegebenen Kampfbeschreibungen leicht davon überzeugen. Der Heldenmut von Priamos, Paris, Hektor und Achilles wird sehr in Zweifel gezogen, und auch die Rolle der antiken Götter und ihre mögliche Bedeutung für die Menschen in der damaligen - und im Transfer auch in der heutigen - Zeit werden gleichfalls hinterfragt.

Die Darstellung der Gedankengänge ist durchaus interessant, wenn man sich für eine solche alternative Sicht einer bereits bekannten Geschichte interessiert. Insgesamt ist diese Erzählung jedoch eher als Parabel zu verstehen, denn die Denkmuster, die Christa Wolf ihrer Kassandra gibt, sind deutlich "zu modern" für eine Seherin der Antike und lassen das Buch mehr im Bereich des neueren "historischen Romans" eine Rolle spielen. Als Bewusstseinsstrom im Sinn von James Joyce kann "Kassandra" auf keinen Fall gelesen werden, denn dafür ist es deutlich zu erzählerisch und kontinuierlich.

Vielmehr geht es in "Kassandra" um die Darstellung von Machtstrukturen - und dabei eher im Sinn eines Feminismus, wie er um 1983 aktuell war - auch als Metapher für die Machtverhältnisse im Warschauer Pakt, in seinen Teilstaaten und in der Welt. Diese Aspekte sind anno 2008 glücklicherweise in erster Linie von historischem Interesse. Davon abgesehen ist "Kassandra" aber auch eine Erzählung über ein zu sich selbst Finden mit und gegen das gesellschaftliche Umfeld und darüber, wie dieses Umfeld mit Außenseitern und Andersdenkenden umzugehen pflegt. Diese Elemente haben sicherlich auch heute noch Gültigkeit.

(K.-G. Beck-Ewerhardy; 07/2008)


Christa Wolf: "Kassandra"
Suhrkamp, 2008. 179 Seiten.
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Es war ein spektakuläres Ereignis, als Christa Wolf 1982 an der Frankfurter Johann Wolfgang von Goethe-Universität ihre Poetik-Vorlesungen hielt. Und die nachfolgende Buchveröffentlichung wurde zu einem Welterfolg: In "Kassandra" greift Christa Wolf auf einen Mythos des abendländischen Patriarchats zurück, den Trojanischen Krieg. Während Kassandra, die Seherin, auf dem Beutewagen des Agamemnon sitzt, überdenkt sie noch einmal ihr Leben. Mit ihrem Ringen um Autonomie legt sie Zeugnis ab von weiblicher Erfahrung in der Geschichte.
Mit ihrer Erzählung "Kassandra" und den Frankfurter Poetik-Vorlesungen Voraussetzungen einer Erzählung, in denen das Entstehen von "Kassandra" begleitet wird, entwirft Christa Wolf ein dichtes Gewebe aus literarischem Text und poetologischer Reflexion. Ihre Darstellung einer mythologischen Figur, die uns als faszinierende Zeitgenossin begegnet, ist längst zum Klassiker und internationalen Verkaufserfolg geworden. (Suhrkamp) zur Rezension ...
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