Christa Wolf: "Voraussetzungen einer Erzählung: Kassandra"
Nachdem
sie die Erzählung "Kassandra"
geschrieben hatte, stellten viele Leser Christa Wolf direkt oder
indirekt Ideen
vor, wie das Buch zu verstehen sei - ein Phänomen, das immer
wieder bei Autoren
für einiges Amüsement sorgt.
In Bezug auf "Kassandra" hat sich Christa Wolf selbst zu ihrem
Werk geäußert - zumindest über dessen
Entstehensgeschichte. Im März 1982
hielt sie an der Universität in Frankfurt am Main eine
fünfteilige
Vorlesungsreihe zu dem Text, in der sie seine "Voraussetzungen"
genauer erläuterte.
Die beiden ersten Vorlesungen beschreiben, wie Christa Wolf eine Reise
durch
Griechenland macht, in deren Verlauf sie sich mit der griechischen
Geschichte
und Gegenwart auseinandersetzt. Sowohl während der
Vorbereitung als auch im
Verlauf der Reise las sie verschiedene klassische Texte und
stieß dabei auf die
Figur der Kassandra, zu der anscheinend ziemlich wenig gesagt wurde.
Die
Darstellung der Wege, Orte und Begegnungen, sowie die dadurch
angeregten
Gedankengänge sind interessant und kurzweilig, so dass man sie
mit wahrem Vergnügen
wahrnehmen kann. Tatsächlich hinterfragt die Autorin ihre
eigene Wahrnehmung
sowie ihre eigenen Schlüsse so regelmäßig,
dass man als Leser gar nicht umhin
kommt, seine eigenen Gedankengänge immer wieder zu
überprüfen.
Die dritte Vorlesung zeigt in Form eines Arbeitstagebuches, das den
Zeitraum Mai
1980 bis August 1981 umfasst, wie sich die Arbeit am Kassandra-Stoff
durch
eigene Überlegungen, Lektüre und Gespräche
mit Freunden und Bekannten
entwickelt hat und wie es zu den Schwerpunktsetzungen kam. Dabei sind
zum sowohl
die merklich
vom
Kalten Krieg geprägten Überlegungen zu
Krieg und Frieden durch die
Menschheitsgeschichte lesenswert, als auch die damaligen Sichtweisen
bezüglich
der Stellung der Frau in dieser Geschichte und der Gegenwart der
frühen 1980er-Jahre.
Jedoch sind einige literaturhistorische Betrachtungen nicht ganz
nachvollziehbar:
Gab es wirklich keine starken literarischen weiblichen Figuren Art vor
1980?
Aber Christa Wolfs notierte Gedanken zeichnen ein relativ genaues Bild
der
damaligen Auffassungen von der weiblichen Rolle in Vor- und
Frühgeschichte, wie
sie auch die Romane um "Die
Nebel von Avalon" beeinflusst haben.
Dass die archäologische Forschung bislang einige dieser
Gedanken widerlegt hat,
ist aus heutiger Sicht sicherlich wichtig, tut aber der
Aktualität der
Betrachtungen um 1982 keinerlei Abbruch. Außerdem stellt
Christa Wolf einige
der auch heute noch meist unwidersprochenen feministischen
Prämissen immer
wieder in Frage, was ihre Ausführungen erfreulich undogmatisch
erscheinen lässt.
In der vierten Vorlesung wird ein Brief vorgestellt, der die sehr
persönliche
Auseinandersetzung der Autorin mit der Figur der Kassandra vor allen
Dingen aus
feministischer Sicht angeht, wobei speziell der Bezug zum Werk
Ingeborg
Bachmanns - und ganz besonders "Malina" - eine
größere Rolle
spielt, ebenso "Erklär mir, Liebe".
Die fünfte Vorlesung beinhaltet eigentlich nur eine
Arbeitsfassung von "Kassandra"
und ist somit in erster Linie von editorischem Interesse. Oder auch,
wenn
man Christa Wolfs Erzählung "Kassandra" noch nicht gelesen hat.
Fazit:
"Voraussetzungen einer Erzählung: Kassandra" ist eine
lohnenswerte
Betrachtung zur Entstehung eines Textes und zum Gedankengut der
damaligen Zeit
in bestimmten Kreisen.
(K.-G. Beck-Ewerhardy; 08/2008)
Christa
Wolf: "Voraussetzungen einer Erzählung: Kassandra"
Suhrkamp, 2008. 246 Seiten.
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Weitere
Lektüretipps:
Matthias Falke (Hrsg.): "Mythos Kassandra. Texte von Aischylos bis
Christa
Wolf"
Die Seherin Kassandra steht im Zentrum des Mythos vom Trojanischen
Krieg. (Reclam
Leipzig)
Buch
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Anastasia
Manola: "Vom
Dichter-Seher zum Dichter-Warner. Über den Wandel eines
mythischen Modells
anhand der Werke von Wolfgang Koeppen, Christa Wolf und Günter
Grass"
Der "poeta vates", der Dichter als Seher - ein
obsoletes dichterisches Modell? Auf den ersten Blick scheint das
archaische
Modell des von Gott inspirierten und zum (Wahr-)Sprechen begabten
Dichters und
Sehers (resp. Propheten), wie es im europäischen Kulturraum
aus Antike und
Altem Testament überliefert ist, in der "entzauberten",
säkularisierten Gesellschaft und Kultur an Aktualität
viel eingebüßt zu
haben. Das Sehermodell bleibt in der deutschen Literatur der Moderne
jedoch
immer noch aktuell und aussagekräftig; den
Rationalisierungsdruck der Moderne
überlebt es allerdings in säkularisierter Form. Der
Dichter
- einstiger
Verkünder heilvoller Zukunftsvisionen - tritt zwar immer noch
als "Seher"
auf, das literarische Zukunftsbild prägen aber nun Unheil,
Untergang und
apokalypseartige Motive. Der Dichter wird zum Unheilspropheten, zu
einer
modernen "Kassandra" und somit zu einer Warner-Figur. Auch hier machen
sich antike und testamentarische "negative" Paradigmen fruchtbar: Die
antike Unheilsprophetin Kassandra ist hierbei konstitutive Referenz-
und
Identifikationsfigur, das Motiv der Apokalypse gängige
Bezugsfolie. Anhand der
Werke von Wolfgang Koeppen ("Die Mauer schwankt", 1935, "Tauben
im Gras", 1951, "Das Treibhaus", 1953), Christa Wolf ("Kassandra",
1983) und Günter Grass ("Die Rättin", 1986) - wird in
dieser Arbeit
die Aktualität des Motivs, aber auch dessen Wandel
exemplifiziert. (Königshausen
& Neumann)
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Corinna
Viergutz und Heiko Holweg (Hrsg.): "Kassandra
und Medea von Christa Wolf: Utopische Mythen im Vergleich"
Das vorliegende Buch widmet sich den beiden Mythenadaptionen
unter dem Aspekt des systematischen Vergleichs der darin
ausgearbeiteten
Utopieentwürfe. Es wird die Frage nach den inhaltlichen
Unterschieden in
Darstellung und Beurteilung der Entwürfe aufgeworfen, nach
Unterschieden, die
der Leser von Werken, welche als reflektierende Reaktion auf
gesellschaftlich
und politisch gänzlich andersartige Verhältnisse
entstanden, in großem Umfang
zu finden erwartet. Macht sich, so die sich aufdrängende
Frage, in "Medea" im
Gegensatz zu "Kassandra" ein Utopieverlust bemerkbar? Die Autoren
vertreten in
ihrer Studie die These, dass die utopische Vorstellung von einem
besseren,
humanen Staat in "Medea" weiterhin, wie schon in "Kassandra", einem
destruktiven
patriarchalen entgegengestellt wird. Im Unterschied zu dem 1983
veröffentlichten Monolog schätzt Christa Wolf in
ihrem Nachwendewerk jedoch
die Chancen für eine Realisierung der in den beiden
Prosastücken entworfenen
gesellschaftlichen Alternativen sehr pessimistisch ein. So werden im
polyperspektivischen Monolog "Medea" zwar die bereits aus "Kassandra"
bekannten utopischen Elemente erneut aufgegriffen und an
Charakterzügen
einzelner Figuren aufgezeigt, allerdings beherrscht der Zweifel daran,
ob es zu
irgendeiner Zeit gelingen kann, größere Gruppen von
Menschen davon zu
überzeugen, die
Utopievorstellungen
anzunehmen und umzusetzen, den Grundtenor
der Wolfschen Mythenadaption nach der Wende. (Königshausen
& Neumann)
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Thorsten
Wilhelmy: "Legitimationsstrategien
der Mythosrezeption - Thomas Mann, Christa Wolf, John Barth, Christoph
Ransmayr
und John Banville"
Bereits am Beginn der Literatur steht der Mythos, genauer
dessen Rezeption. Noch in der modernen Literatur wird der
ästhetische
Überschuss der oft erzählten Geschichten ausgebeutet,
wird die Arbeit am
Mythos fortgesetzt. Doch wer es im zwanzigsten Jahrhundert unternimmt,
den
Mythos für die Literatur zu funktionalisieren, der setzt sich
einem doppelten
Legitimationsdruck aus: einem ästhetischen, insofern die
Geschichten gerade
wegen ihrer Bekanntheit erschöpft zu sein scheinen, einem
ideologischen, weil
der Mythos als Einspruch gegen die aufgeklärte Moderne
verstanden werden kann.
Die Studie untersucht ausgehend von Thomas Manns Roman "Joseph und
seine
Brüder", welche Strategien in der Literatur des zwanzigsten
Jahrhunderts
entwickelt werden, um den Mythos erzählbar zu halten, ohne
hinter die
Ansprüche der Moderne zurückzufallen. In einer
aufsteigenden Linie wird anhand
der Texte von Christa Wolf ("Kassandra"; "Medea. Stimmen"),
John Barth ("Chimera"),
Christoph
Ransmayr ("Die letzte Welt") und John Banville ("Athena")
gezeigt, wie das Konzept einer Ästhetisierung des Mythos
diesen anschlussfähig
macht an moderne Diskurse und ob die entwickelten Alternativen, die mit
dem
Stichwort Korrektur umschrieben sind, sich als ähnlich
plausibel erweisen. (Königshausen & Neumann)
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