Christopher Clark: "Wilhelm II."
Die Herrschaft des letzten deutschen Kaisers
Kaiser Wilhelm lI.: Schwachkopf oder verantwortungsbewusster
Monarch?
Wilhelm II. gehört nicht zu den Persönlichkeiten, denen die
Geschichtsschreibung freundlich gegenübersteht; ganz im Gegenteil:
er wurde und wird gern lächerlich oder, je nach Intention des
Autors, verantwortlich gemacht für die ganze Misere des 20.
Jahrhunderts bis 1945.
Die Figur dieses Hohenzollern bleibt indes rätselhaft -
dämonisch, (größen-) wahnsinnig, albern, man weiß
sich nicht recht zu entscheiden.
In seiner Wilhelm-II.-Biografie untersucht der britische Historiker
Christopher Clark den Werdegang des Kaisers und die Jahre seiner
Herrschaft mit der gebotenen Distanz. Er beschränkt sich nicht auf
die Zeit unmittelbar vor dem Ersten Weltkrieg und lässt sich von
keiner "Schule" von Historikern vereinnahmen.
Im ersten Kapitel geht es um Wilhelms Kindheit und Jugend und in diesem
Zusammenhang um die seltsame Situation, dass zwei Generationen um
Wilhelms Erziehung und Gunst stritten: der streng den traditionellen
Idealen verpflichtete Großvater Wilhelm I. und der progressive
Vater, Friedrich Wilhelm. Dieser Konflikt, so zeigt der Autor auf,
entschied sich zugunsten des Großvaters.
Das Kapitel "Übernahme der Macht" befasst sich mit Wilhelms
Versuch, sich innerhalb der Regierung beziehungsweise des "Systems" zu
positionieren, nachdem er die Kaiserwürde von seinem früh
verstorbenen Vater übernommen hatte, und Bismarcks Intrigen gegen ihn; treffend wird der "geschasste" alte Kanzler als "Banquos Geist"
bezeichnet.
Die innen- wie außenpolitischen Weichenstellungen in den
1890er-Jahren, Wilhelms Freunde und seine Beziehungen zu den
aufeinander folgenden Kanzlern, aber auch seine unglücklichen
Versuche zur Gestaltung der Beziehungen Deutschlands zum Ausland, die
damit verbundene Flottenpolitik und wiederum die Bemühungen der
Regierung, den Kaiser zu lenken, sind Themen weiterer Kapitel. Ebenso
wird die Rolle der Medien für den Eindruck Wilhelms bei
ausländischen Beobachtern und seinem eigenen Volk untersucht.
Ein ausführliches Kapitel befasst sich mit der unmittelbaren Vorgeschichte des
Ersten Weltkrieges und Wilhelms Rolle hierbei. "Krieg, Exil, Tod" sind in einem einzigen Abschnitt zusammengefasst.
Die Schlussbetrachtung gibt einen markanten Überblick über
Wilhelms Leben und Wirken. Im Anhang findet sich neben einer
interessanten Bibliografie unter anderem eine Zeittafel, die sehr zur
Erleichterung der Lektüre beiträgt.
Wilhelm II. in eine Schublade zu verfrachten, ist sicherlich eine
einfache Möglichkeit, sich mit der Geschichte des frühen 20.
Jahrhunderts auseinanderzusetzen. Sie wird aber dem letzten deutschen
Kaiser nicht gerecht.
Christopher Clark hat, wie er in der Schlussbetrachtung selbst angibt, nicht die
Absicht, Wilhelm II. zu "rehabilitieren".
Er möchte dem Leser, Fachpublikum wie interessierten Laien, jedoch
den Zugang zu diesem Monarchen verschaffen, der sich anhand der
üblichen Quellen nicht leicht erschließt. Gern wurden in der
Vergangenheit Zitate aus dem Zusammenhang gerissen, die ein skurriles
und klischeebehaftetes Bild des Kaisers entwarfen. Wenngleich sich etwa
dessen Hang zu einem befremdlichen Pathos, wie es etwa aus der
"Hunnenrede" hervorgeht, sein fehlendes Verständnis für
militärische Strategien und außenpolitische Diplomatie sowie
sein Selbstbild als absolutistischer Herrscher von "Gottes Gnaden"
nicht leugnen lassen, so verhilft das vorliegende Buch doch zu einer
differenzierteren Betrachtung eines Herrschers, der frühzeitig
genötigt war, sich innerhalb der beiden Lager innerhalb seiner
Familie zu positionieren, der von einem übermächtigen
Bismarck dominiert wurde und sich mitunter schwer tat, die richtigen
Berater zu finden.
Wilhelms Fehler bleiben in diesem Buch nicht etwa unbeachtet, doch sie
werden genau analysiert, und ihre Ursachen und Hintergründe
bleiben dem Leser, wo möglich, nicht verborgen. Der Autor
untersucht Wilhelms Biografie und seine Rolle in der Geschichte rund um
den Ersten Weltkrieg ohne ideologische Brille, er sucht nach
größeren Zusammenhängen und kann dem Leser die
zwiespältige Persönlichkeit des letzten deutschen Kaisers
nahe bringen. Dessen bislang wenig geachtete Versuche, den Frieden zu
wahren, seine erfolglosen Bemühungen, den Einfluss der
gefährlichen "siamesischen Zwillinge" Hindenburg und Ludendorff
einzuschränken, und sein kurzer "Flirt" mit Hitler kommen nebst vielen anderen Themen in diesem Buch überraschend zur Geltung. Der Kaiser
präsentiert sich etwas kurzsichtig, von Scheuklappen bedrängt und von einer
unzeitgemäßen Vision beseelt, aber nicht als der anachronistische Schwachkopf, als der er gern karikiert wurde.
Dieses Buch ist spannend zu lesen, es beleuchtet den Kaiser aus zahlreichen
Perspektiven, nicht zuletzt auch jener der neu aufkommenden Massenmedien mit ihrem zunächst unterschätzten Einfluss.
Ein packendes und zugleich hochinteressantes Buch, das sich um Objektivität
bemüht und einen differenzierten Blick auf den letzten deutschen Kaiser ermöglicht!
(Regina Károlyi; 10/2008)
Christopher Clark: "Wilhelm II. Die Herrschaft des letzten deutschen Kaisers"
(Originaltitel "Kaiser Wilhelm II. Profile in Powers")
Übersetzt von Norbert Juraschitz.
DVA, 2008. 414 Seiten.
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Christopher Clark, geboren 1960,
lehrt als Professor Neuere Europäische Geschichte am St. Catharine's College
in Cambridge. Zu seinen Forschungsgebieten zählt neben der preußischen die
deutsche Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts. Für sein Buch "Preußen"
erhielt er anno 2007 den renommierten "Wolfson Prize":
"Preußen. Aufstieg und Niedergang 1600-1947"
Christopher Clark schildert den Aufstieg Preußens
vom kleinen, an Bodenschätzen armen Territorium um Berlin zur dominierenden
Macht auf dem europäischen Kontinent. Seine brillante Darstellung von über
300 Jahren preußischer Historie ist ein Meisterwerk der Geschichtsschreibung.
Die Auflösung Preußens durch ein alliiertes
Kontrollratsgesetz am 25. Februar 1947 setzte einen Schlusspunkt unter eine
Jahrhunderte alte wechselvolle Geschichte. Der Name Preußen ist untrennbar
verbunden mit Aufklärung und Toleranz, verkörpert etwa in Friedrich dem Großen,
verbunden aber auch mit Militarismus, Maßlosigkeit und Selbstüberschätzung
Wilhelms II. Das Nachdenken über Preußen stand in den letzten Jahrzehnten im
Schatten der hitzigen Debatten über die deutsche Geschichte.
Doch die Zeit ist reif für einen distanzierten, sensibel wägenden Blick auf
dieses große Kapitel der deutschen und europäischen Vergangenheit. (Pantheon)
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Weitere Buchtipps:
Ulrich
Schlie: "Das Duell. Der Kampf zwischen Habsburg und Preußen
um Deutschland"
Seit Friedrich der Große Preußen in den Kreis der
europäischen Großmächte geführt
hatte, rangen das Habsburger Reich und der preußische
Aufsteiger um die Vorherrschaft in Deutschland. Dabei hatte das
dynamischere Preußen rasch Vorteile gegenüber der
schwerfälligen Wiener Doppelmonarchie. Dieses mitunter
dramatische Duell in der Mitte Europas zeichnet der Historiker Ulrich
Schlie anhand von fünf biografischen Doppelporträts
nach.
Am Anfang steht der Raub Schlesiens, mit dem
Friedrich der
Große Kaiserin Maria Theresia düpierte. Auf dem
Wiener Kongress fochten Preußens Kanzler Hardenberg und
Habsburgs Außenminister Metternich um die Führung im
nach-napoleonischen Deutschland. Auch Bismarck und Schwarzenberg
standen für zwei Wege zur Lösung der deutschen Frage.
Bismarck suchte die Entscheidung, in der Schlacht von
Königgrätz schlug die preußische Armee das
österreichische Heer vernichtend. Der Weg war frei
für das Deutsche Kaiserreich unter Preußens
Führung.
Was folgte, waren die fatalen Großmachtträume der
Kaiser Wilhelm II. und
Franz Joseph I., die in den Ersten Weltkrieg und
zum Untergang beider Monarchien führten. Den Schlusspunkt
setzte Hitler mit dem "Anschluss" seiner Heimat - ein krimineller
Gewaltstreich, der im totalen Machtverlust der beiden Dauerrivalen
endete.
Bravourös gelingt es Schlie, anhand der Protagonisten dieses
Machtduells zweihundert Jahre deutscher Geschichte neu zu beleuchten.
Erst aus dieser Perspektive wird deren fataler Verlauf
verständlich. (Propyläen Verlag)
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John C. G. Röhl: "Wilhelm II. Der Weg in den Abgrund 1901-1941"
Wilhelm II. hat um 1900 alle starken und kompetenten Persönlichkeiten von den
Schaltstellen der Regierung entfernt. Umgeben von Karrieristen und
Knechtsnaturen, die sich in Liebedienerei überbieten, übt er in fataler Weise
sein persönliches Regiment aus. Inkompetent und selbstherrlich mischt er sich
in die Innen- und Außenpolitik ein, versucht die europäischen Großmächte
gegeneinander aufzuhetzen, betreibt eine mörderische Rüstungspolitik und führt
das Deutsche Reich in den Abgrund des Ersten Weltkriegs.
John Röhl, der international beste Kenner der Geschichte Wilhelms II. und
seiner Epoche, bringt mit diesem Band seine monumentale Biografie des letzten
deutschen Kaisers zum Abschluss. Atemlos verfolgt der Leser, wie der Autor noch
einmal den Untergang einer Epoche heraufbeschwört; er erlebt, wie Wilhelm II. säbelrasselnd
über das Parkett der internationalen Diplomatie stolpert, das Reich von einer
Krise in die nächste führt und es schließlich vollständig isoliert:
Burenkrieg, Boxeraufstand, Russisch-Japanischer Krieg, Marokkokrisen, "Daily-Telegraph"-Krise
und Balkankonflikte - niemand ist in der Lage, den in seinem Handeln oft
manisch, bisweilen gar paranoid wirkenden Herrscher zu stoppen. Sein
Flotten-Wahn und sein Traum eines Europa unter deutscher Vorherrschaft enden
erst in den blutigen Schlachten des Ersten Weltkriegs. Doch während Wilhelm II.
ins Exil geht, seinen Judenhass kultiviert und Hitlers frühe Erfolge bejubelt,
lastet auf Deutschland das heillose Erbe seiner Hybris. (C.H. Beck)
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Hermine Prinzessin von Preußen: "Der Kaiser und ich.
Mein Leben mit Kaiser Wilhelm II. im Exil"
Hermine (1887-1947), zweite Ehefrau von Kaiser Wilhelm II., ist von ihren
Zeitgenossen häufig nicht sehr positiv beurteilt worden; daran mögen ihre
Lebenstüchtigkeit und ihr daraus resultierendes Selbstbewusstsein nicht ganz
unschuldig sein, andererseits auch ihr leidenschaftliches Temperament, welches
sich bis hin zu Wutausbrüchen steigern konnte. In ihren Schilderungen
vermittelt sie ein bemerkenswert lebendiges Bild vom Leben des Kaisers und
seiner Umgebung in dem 1920 von ihm als Wohnsitz erworbenen Haus Doorn
(Niederlande). (Matrix Media)
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Frank Lorenz Müller: "Der 99-Tage-Kaiser" zur
Rezension ...
Friedrich III. von Preußen: Prinz, Monarch, Mythos
Lothar Machtan: "Die Abdankung. Wie Deutschlands gekrönte
Häupter aus der Geschichte fielen"
Im November 1918 endete nicht nur der
Erste
Weltkrieg, sondern auch das Deutsche
Kaiserreich. Innerhalb weniger Tage entsagten sämtliche deutsche Bundesfürsten,
darunter jahrhundertealte Dynastien wie die Hohenzollern, die Wettiner oder die
Wittelsbacher, der Macht und überließen das Feld widerstandslos den
Novemberrevolutionären. Nicht nur der Kaiser und preußische König Wilhelm
II., sondern auch drei weitere Könige und die Regenten der zahllosen deutschen
Fürstenhäuser dankten über Nacht ab - ein in der Geschichte einzigartiges Phänomen.
Der Bremer Historiker Lothar Machtan hat sich seit vielen Jahren intensiv mit
diesem spektakulären Vorgang, seiner Vorgeschichte und seinem Nachhall beschäftigt.
Er hat in den einschlägigen Archiven der Fürstenhäuser völlig unbekanntes
Material gefunden, darunter Briefe, Tagebücher und Aufzeichnungen aller Art.
Wie ein ferner Spiegel reflektieren diese Quellen die Ängste und Nöte der
blaublütigen Protagonisten, aber auch ihre Naivität und Ignoranz gegenüber
den dramatischen gesellschaftlichen Umwälzungen im Gefolge des Krieges. So
zeigt sich die Zäsur von 1918 in neuer Perspektive: Revolution als Fürstendämmerung.
Selten ist ein bedeutsames Kapitel deutscher Geschichte so lebendig,
unterhaltsam und neuartig geschildert worden. (Propyläen Verlag)
zur Rezension ...
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Lothar Machtan: "Prinz Max von Baden" zur
Rezension ...
Der letzte Kanzler des Kaisers