Ernst Wiechert: "Der Totenwald"
Die
Ouvertüre zur großen Symphonie des Todes
"Das Volk war wie durch ein Sieb gefallen, und die Spreu hatte
die Herrschaft über den Weizen gewonnen." Ein Satz,
der so oder ähnlich auch in der Bibel hätte stehen
können, ein Satz wie eine Offenbarung. Doch dieser Satz
entstammt nicht der Bibel, sondern der Offenbarung des Dichters Ernst
Wiechert, einer Offenbarung, die er 1939 in seinem Buch "Der Totenwald"
niedergelegt hat; einem unbedingt lesenswerten Buch, selbst nach all
den Jahren und angesichts der in dieser Zeit angesammelten Literatur
zum Thema. Und nicht nur lesenswert, weil es sich beim "Totenwald"
vermutlich um den ersten in deutscher Sprache verfassten literarischen
Bericht aus einem Konzentrationslager handelt, um die
Ouvertüre zur Symphonie des Todes sozusagen. Wiechert schreibt
dazu in seinem Vorwort: "Dieser Bericht will nichts sein als
die Einleitung zu der großen Symphonie des Todes, die einmal
von berufeneren Händen geschrieben werden wird. Ich habe nur
am Tor gestanden und auf die dunkle Bühne geblickt, und ich
habe aufgeschrieben, nicht so sehr was meine Augen gesehen haben,
sondern was die Seele gesehen hat. Der Vorhang hatte sich erst zum Teil
gehoben, die Lampen brannten noch matt, die großen
Schauspieler standen noch im Dunklen. Aber die Speichen des
schrecklichen Rades begannen sich schon zu drehen, und Blut und Grauen
tropften schon aus ihrem düster blitzenden Kreis."
Ernst Wiechert, Frontkämpfer im
Ersten Weltkrieg,
war im
Grunde ein Mann mit einer unverhohlen national-konservativen,
vielleicht sogar latent rassistischen Gesinnung. Durch seine
später vollzogene Wandlung zum Humanismus geriet er jedoch
bald ins Fadenkreuz der Nationalsozialisten. Die Zeit vom sechsten Mai
bis zum 24. August 1938 verbrachte Wiechert in Gestapo-Haft. Kurz
darauf, Anfang 1939, erschien dann sein Erfolgstitel "Das einfache
Leben", in dem man aber vergeblich nach einer Aufbereitung der
Hafterlebnisse Ausschau hält. Diese Aufarbeitung blieb dem
Bericht "Der Totenwald" vorbehalten, der ebenfalls 1939 geschrieben
wurde, seine Erstauflage im November 1945 erlebte und nun in einer
neuen Ausgabe des Suhrkamp Verlages vorliegt. Die Bezeichnung
"Totenwald" steht hier für das Konzentrationslager Buchenwald,
in dem Wiechert als politischer Häftling interniert war.
Wie aus einer gewissen Distanz berichtet uns Wiechert von seinen
Erlebnissen, nicht als Ich-Erzähler, eher
unpersönlich, beinahe nüchtern, frei von Hass und
Rachegelüsten, so als wäre sein Bericht nicht
unmittelbar nach den ihm zugrunde liegenden Erlebnissen, sondern erst
sehr viel später abgefasst worden; als seien die Stimmen der
Erinnerung schon tief in die Vergangenheit abgetaucht, aus der sie nur
mehr als ein fernes Echo in das Bewusstsein hinaufdrängen.
Trotzdem oder vielleicht gerade deswegen vermag Wiecherts Buch einen
nachhaltigen Eindruck beim Leser hervorzurufen. Der Dichter
lässt ein vieldimensionales Bild vor den Augen seiner Leser
entstehen, welches die Dimension des Leides, die Dimension des Grauens,
die Dimension der Absurdität und vieles mehr beinhaltet. Nur
die Dimension des Hasses, die sucht man dort vergebens, Ernst Wiechert
verfügte wohl über eine Geisteshaltung, die einen
schlechten Nährboden für die Wurzeln des Hasses
abgab. Nicht einmal Spott und Verachtung im Übermaß
oder eine persönliche Abrechnung mit seinen Peinigern finden
sich in Wiecherts Bericht. Nur einmal nennt er anklagend einen Namen: "Er
hieß Hartmann, und sie sagten, er sei der Sohn eines
Pfarrers. Sein Name soll hier aufbewahrt und in einem traurigen Sinn
unsterblich bleiben."
Zwangsläufig stellt Wiechert auch die
Frage nach Gott. Wo ist
oder wo war der gütige Gott, der all dies zugelassen hat? Der
Gott, der so vielen Menschen ein Erleben von unbeschreiblicher
Grausamkeit und gleichzeitig widersinniger als jeder Traum beschert
hat. Ernst Wiechert wusste auch keine Antwort darauf zu geben, kein
Fingerzeig Gottes, der ihm einen Sinn gewiesen hätte, und
über dem Stacheldrahtverhau, der das Lager umgab, erhoben sich
lediglich die Gespenster einer unseligen Zukunft. Seine Würde
hat sich Wiechert trotzdem bewahren können, dabei auch immer
in der Hoffnung, ja in der unumstößlichen Gewissheit
lebend, dass die von Hitler
errichtete Zwingmauer sinnentleerter
Autorität nicht von Dauer sein konnte, da sie nicht mit
geisttragender Substanz verfugt war. Und mit psychologischem
Scharfblick entlarvt Ernst Wiechert die Armseligkeit und
Inferiorität von Hitlers Knechten, ohne dabei aber allzu stark
zu verurteilen oder gar zu verdammen. Und auch die Opfer des Terrors
tragen bei Wiechert keinen Heiligenschein, allenfalls die Dornenkrone
des Leidenden. Wir begegnen im "Totenwald" also einer
außerordentlich menschlichen Betrachtungsweise all der
schrecklichen Dinge, die damals geschehen sind. Ein
uneingeschränkt zu empfehlendes Buch!
(Werner Fletcher; 06/2008)
Ernst
Wiechert: "Der Totenwald"
Ein Bericht mit einem Essay von Klaus Briegleb.
Bibliothek Suhrkamp, 2008. 184 Seiten.
Buch
bei amazon.de bestellen
Weitere
Bücher des Autors
(Auswahl):
"Wälder und Menschen. Eine Jugend"
Mit großer Liebe, mit leisem Humor und lächelnder
Ironie erzählt Ernst
Wiechert und lässt den Leser an der Wanderung durch die
Stätten und Jahre
seiner Jugend in
Ostpreußen
teilnehmen: der sehr
persönliche Bericht eines
empfindsamen Menschen, dessen Natur- und Schöpfungsliebe immer
noch Richtung
und Ziel weisen kann. (LangenMüller)
Buch
bei amazon.de bestellen
"Das
einfache Leben"
Der berühmteste Roman von Ernst Wiechert, der ein Welterfolg
wurde, gewinnt
neue, bewegende Aktualität.
In eindrucksvollen Bildern und virtuos geformter Sprache
erzählt Ernst Wiechert
von der Kraft, die in einem einsamen Leben liegt: Der
Marinekapitän Thomas von
Orla beginnt in der Nachkriegszeit ein von Wind und Wasser, Wald und
Tieren
umgrenztes, arbeitsreiches Leben, und findet hier die Antwort auf seine
drängenden
Fragen. (LangenMüller)
Buch
bei amazon.de bestellen
"Der
weiße Büffel"
"Mein lieber Sohn, die Götter, denen du dienst, haben
nicht erlaubt,
dass wir Blut vergießen - nicht immer ist der Pfeil der beste
Weg zur
Gerechtigkeit." Die Lehre seiner Mutter beachtet der
Hirtenjunge
Vasudewa nicht, seine Empörung über Unrecht
lässt ihn zum grausamen
Gesetzlosen und Despoten werden.
Erst als er mit seinen Gefolgsleuten ein schreckliches Massaker
anrichtet, wird
ihm sein Irrtum bewusst. Vasudewa findet zu seiner Mutter
zurück, er wandelt
sich zum gewaltlosen Verfechter der Gerechtigkeit - ein Weg, der innere
Einsicht
und äußerste Opferbereitschaft von ihm verlangt.
Ernst Wiecherts eindringliche Erzählung verbindet die Weisheit
des Ostens mit
tiefem Glauben an wahre Gerechtigkeit; trotz ihrer dunklen Grundmelodie
mündet
sie in einen Lobgesang auf das Leben selbst: ein zeitloses Kunstwerk.
Gelesen von Siemen
Rühaak. (LangenMüller)
Hörbuch-CDs
bei amazon.de bestellen
Lien: Internationale Ernst-Wiechert-Gesellschaft (IEWG) e.V.