Ian Kershaw: "Wendepunkte"
Schlüsselentscheidungen im Zweiten Weltkrieg
Wie wenige Entschlüsse den Lauf der Welt beeinflussten
Der Zweite Weltkrieg stellte die führenden Politiker in den
mächtigsten Staaten der Welt vor Schwierigkeiten und
Herausforderungen, wie es sie zuvor wohl niemals gegeben hatte.
Demokratischen Staatsführern, die auf Parlamente und
Öffentlichkeit Rücksicht nehmen mussten, standen
schwer berechenbare Diktatoren mit psychopathischen Zügen
gegenüber, die praktisch beliebig agieren konnten.
Häufig überschlugen sich die Ereignisse. In dieser
Situation wurden 1940/41 einige Entscheidungen getroffen, die im
wahrsten Sinne des Wortes die Welt veränderten.
Der Historiker Ian Kershaw, unter anderem bekannt durch seine
Standardwerke zu Hitler, hat die zehn Ereignisse ausgewählt,
die seiner Ansicht nach als Schlüsselentscheidungen zu
betrachten sind, und sie selbst, ihre Vorgeschichte und Folgen in
seinem Werk "Wendepunkte" beleuchtet.
Es handelt sich um folgende Entschlüsse (nachfolgend die
Kapitelüberschriften):
1. London, Frühjahr 1940: Großbritannien beschließt, weiterzukämpfen.
2. Berlin, Sommer und Herbst 1940: Hitler beschließt, die Sowjetunion anzugreifen.
3. Tokio, Sommer und Herbst 1940: Japan beschließt, die "goldene Gelegenheit" zu ergreifen.
4. Rom, Sommer und Herbst 1940: Mussolini beschließt, sich seinen Teil zu nehmen.
5. Washington, Sommer 1940 bis Frühjahr 1941: Roosevelt beschließt, Hilfe zu leisten.
6. Moskau, Frühjahr und Sommer 1941: Stalin beschließt, es besser zu wissen.
7. Washington, Sommer und Herbst 1941: Roosevelt beschließt, einen unerklärten Krieg zu führen.
8. Tokio, Herbst 1941: Japan beschließt, in den Krieg einzutreten.
9. Berlin, Herbst 1941: Hitler beschließt, den Vereinigten Staaten den Krieg zu erklären.
10. Berlin/Ostpreußen, Sommer und Herbst 1941: Hitler beschließt, die Juden zu ermorden.
Im
ersten Kapitel geht es um die Entscheidung von englischer Seite, trotz
der eklatanten französischen Niederlage und der eigenen
militärischen Defizite kein Friedensangebot zu machen oder
anzunehmen: eine Entscheidung, die Hitler anzeigte, dass es
möglicherweise lange eine Front im Westen geben
würde.
Nicht zuletzt aus dieser Entscheidung wurde wiederum Hitlers im zweiten
Kapitel thematisierter, für Abermillionen Menschen fataler
Entschluss geboren, die Sowjetunion anzugreifen, bevor sie voll
aufgerüstet wäre und sich möglicherweise mit
Großbritannien zusammenschlösse.
Im dritten Kapitel analysiert Kershaw die japanische Entscheidung, eine
Expansion in Südostasien voranzutreiben. Damit machten sich
die Japaner die USA endgültig zu Gegnern und riskierten nicht
minder den Konflikt mit England.
Mussolinis Griechenlandfeldzug schließlich, ein einziges
Fiasko, band andernorts dringend benötigte Truppen zu einem
wichtigen Zeitpunkt an einem im Grunde unbedeutenden Ort.
Das fünfte und das siebte Kapitel spiegeln Roosevelts
schwierige Position zwischen den Isolationisten und den "Falken" wider:
Die Erstgenannten wollten kein neuerliches Abschlachten
"amerikanischer" Jungs in Europa riskieren wie im Ersten
Weltkrieg, die
anderen sahen ein, dass der Achse nur durch militärische
Intervention beizukommen war und England dringend unterstützt
werden musste.
Stalins
Entschluss, präzise Hinweise von Diplomaten und
Spionen, darunter einige deutsche, zu ignorieren und keine Vorsorge
gegen einen deutschen Überfall zu treffen, mag unter
Umständen Millionen von Menschenleben gekostet haben.
Japans Überfall auf Pearl Harbor schließlich
ermöglichte es den USA, offen in den Krieg einzutreten und ihr
mittlerweile beträchtliches militärisches Potenzial
auszuspielen. Hitlers sich anschließende
Kriegserklärung an die USA wirkt unnötig,
lässt sich jedoch, wie Kershaw aufzeigt, logisch
begründen - bewirkt hat sie indes wohl wenig, vielleicht die
Ereignisse etwas beschleunigt.
Der Entschluss zur "Endlösung
der Judenfrage" freilich hat die
Welt auf entsetzliche Weise geändert und zuvor undenkbare
Gräuel in Gang gesetzt. Auch in diesem Kapitel untersucht der
Autor detailliert, wie es zu der entsprechenden Entscheidung kommen
konnte.
Liest man als Laie Standardwerke zum Verlauf des Zweiten Weltkriegs, so
bleiben viele Entschlüsse rätselhaft: Die Kette der
Ereignisse dieses schrecklichen Höhepunktes der
Weltgeschichte
ist alles Andere als selbst erklärend, und wer sich für
die neuere Geschichte interessiert, dürfte so manches richtungsweisende Ereignis bereits hinterfragt haben.
Ian Kershaw bietet hochinteressante Antworten auf die Frage, warum und
in welchem Kontext gewisse Entscheidungen getroffen wurden, die den
Kriegsverlauf oder auch, wenn man so will, die Geschichte der
Menschheit an sich derart massiv beeinflussten.
Zu Beginn jedes Kapitels erhält der Leser eine kurze
Einführung in die Umstände, die zu der für
das Kapitel relevanten Entscheidung führten.
Anschließend arbeitet der Autor das Thema detailliert aus -
allerdings verrennt er sich niemals derart in Einzelheiten, dass man
Absätze überspringen möchte. Wer weniger
versiert ist in der Geschichte des Zweiten Weltkriegs, findet Hilfe in
der Übersicht handelnder Personen am Anfang des Buchs, die
nach Ländern geordnet die bedeutenden Staatsmänner
und Militärs jener Epoche vorstellt. Die Kapitel enden mit
einer Betrachtung der Folgen des jeweiligen Beschlusses.
Ian Kershaw versteht es nicht nur, die zehn von ihm untersuchten
Entscheidungen in den politischen und militärischen Kontext
des Zweiten Weltkriegs einzuordnen, dem Leser die Protagonisten
näher zu bringen und die Entschlüsse präzise
zu begründen. Inhaltliche Überschneidungen
bezüglich der Abläufe, jedoch je nach Kapitel aus
völlig unterschiedlichen Blickwinkeln, ermöglichen
zudem eine von durch die Nationalität des Lesers oder dessen
politische Einstellung bedingten Vorbehalten praktisch freie
Betrachtung der Vorgänge und somit eine bemerkenswert
objektive Sicht auf den Zweiten Weltkrieg. Diese Chance, den Krieg von
allen bedeutenden Orten aus zu betrachten, ist in der
einschlägigen Literatur wohl einmalig.
Der Autor schreibt für ein breites Publikum. Historiker
vermögen seinem Werk wohl durchaus interessante Impulse zu
entnehmen, Laien finden darin einen wertvollen Schlüssel zum
Verständnis des Zweiten Weltkriegs, ohne dass sie
Vorkenntnisse über den schulischen Geschichtsunterricht hinaus
mitbringen müssten. Zudem ermöglicht der angenehme
Stil eine kurzweilige, wenn nicht spannende Lektüre.
Zwei Seitenblöcke mit Fotos illustrieren den Text; sie zeigen
wesentliche Situationen sowie die Protagonisten des Zweiten
Weltkrieges.
"Wendepunkte" ist ein äußerst empfehlenswertes Buch
für alle, die sich für Zeitgeschichte und
insbesondere den Zweiten Weltkrieg interessieren. Auch wenn es
lediglich die Ereignisse bis Ende 1941 abdeckt, bietet es die
Möglichkeit, diesen in der Geschichte bislang allein stehenden
Krieg im Großen und Ganzen zu verstehen und nachzuvollziehen,
inwiefern wenige in dieser Zeit getroffene Entscheidungen Entwicklungen
einleiteten, die bis heute spürbar sind.
(Regina Károlyi; 10/2008)
Ian
Kershaw: "Wendepunkte. Schlüsselentscheidungen
im Zweiten Weltkrieg"
(Originaltitel "Fateful Choices. Ten Decisions that changed the World")
Übersetzt von Klaus-Dieter Schmidt.
Gebundene Ausgabe:
DVA, 2008. 735 Seiten.
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Taschenbuchausgabe:
Pantheon, 2010.
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Weitere Bücher des Autors
(Auswahl):
"Das Ende. Kampf bis in den Untergang - NS-Deutschland 1944/45"
Das "Dritte Reich" kämpfte nicht nur bis zum
bitteren Ende, bis zur totalen Niederlage, es funktionierte auch bis zum
Schluss. Bis die Rote Armee vor den Pforten der Reichskanzlei stand, wurde die
öffentliche Ordnung in Deutschland, das täglich ein Stück mehr unter alliierte
Besatzung geriet, weitgehend aufrechterhalten. Löhne wurden bezahlt und die
Verwaltung lief - wenngleich unter großen Schwierigkeiten - weiter. Die Gründe
dafür, warum Hitlers Deutschland militärisch zusammenbrach, sind bekannt, die
Frage, wie und warum das "Dritte Reich" bis zum Schluss funktionierte, ist
dagegen bis heute nicht beantwortet. Zentral bei der Suche nach einer Antwort
auf die Frage, wie das Regime bis zum Ende durchhalten konnte, so der
renommierte NS-Historiker Ian Kershaw, ist Hitlers Art der charismatischen
Herrschaft. (DVA)
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"Hitlers Freunde in England. Lord Londonderry und der Weg in den Krieg"
"Sie und Deutschland erinnern mich an die
Schöpfungsgeschichte in der
Bibel. Nichts sonst beschreibt den Eindruck richtig",
schreibt Lady Londonderry an
Hitler.
Wie war es möglich, dass die Spitzen
der englischen Gesellschaft derartige Briefe schrieben? Und woraus speiste sich die
krasse Fehleinschätzung der wahren Ziele Hitlers?
Ian Kershaws Buch ist eine exzellente Darstellung Englands ambivalenter
Beziehungen zu Deutschland in den 1930er-Jahren und der fatalen
Versuche einiger
seiner hochrangigsten Vertreter, Freundschaft mit Hitler und seinem
Regime schließen zu wollen. In Lord Londonderry, Cousin Churchills
und zeitweise Mitglied des englischen Kabinetts, finden sich wie in einem Brennglas
Motive und Hintergründe für die britische Appeasementpolitik
versammelt. Ein differenziertes und gleichzeitig beklemmendes Porträt von
Hitlers Freunden in England und ihrem Verkennen der nahenden Katastrophe. (DVA)
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Noch ein Buchtipp:
Mark Mazower: "Hitlers Imperium. Europa unter der Herrschaft des Nationalsozialismus"
In wenigen Jahren erreichte Hitler durch Annexion und Eroberung eine
koloniale Expansion, die Europa von Brest bis nahezu Moskau,
vom Nordkap bis zur Sahara umfasste. Mark Mazower schildert, welches europäische
Großreich unter deutscher Führung Hitler anstrebte, wie er es aufbaute und
welche oft falschen und abwegigen Annahmen in die Vision einer deutschen Weltmacht
einflossen.
Nach Ausdehnung und Bevölkerung übertraf Hitlers
Imperium die USA und sollte Basis für die deutsche Weltherrschaft werden. Mazower entwirft
ein bestürzendes Bild von der Welt, wie sie nach Vorstellung Hitlers und seiner
Anhänger hätte aussehen sollen: Juden, Russen, Polen ausgelöscht oder als
Arbeitssklaven eingesetzt; die germanische Rasse herrschend und allein zu Reichtum und
Wohlstand berechtigt in einem Großreich vom Atlantik bis zum
Schwarzen Meer. Dass diese Vision schließlich nach den ersten
großen militärischen Erfolgen nicht Realität wurde, ist zu einem gewissen Teil auch der
totalen deutschen Verkennung der ökonomischen und politischen Notwendigkeiten
eines solchen Großreichs zuzuschreiben.
Mazower zeigt, wie sich die Nazis mit ihrer Ideologie den eigenen
kolonialen Träumen - die nicht genuin faschistisch, sondern geradewegs dem 19. Jahrhundert
und dem britischen Weltreich entlehnt waren - selbst im Wege standen.
Ein viel gelobtes Werk, das nicht nur auf Deutschland, sondern auch auf
Europa ein neues Licht wirft. (C.H. Beck)
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