Jan Weiler: "Drachensaat"


Die Propheten des Guten

Jan Weilers Roman "Drachensaat" berichtet, wie fünf Außenseiter auf einmal im Zentrum der Gesellschaft stehen.

Toleranz - dieses Wort ist schnell dahergesagt. Es ist ein weit verbreitetes, um nicht zu sagen breit getretenes Schlagwort unserer Generationen. Sein lateinischer Wortstamm "tolare" bedeutet so viel wie "erdulden, ertragen". Heutzutage definiert man den Begriff vielmehr damit, etwas "zu akzeptieren oder anzunehmen". Aus der "passiven Opferrolle" ist die "aktive Täterrolle" geworden.

Und auf die werden die einzelnen Gesellschaftsmitglieder unzureichend vorbereitet. Denn in unserer materialistisch ausgerichteten Gesellschaft wird die Überlegenheit des Stärkeren und das Ausschalten des Schwächeren allerorts als Priorität für das eigene Vorankommen "gepredigt". Intrigen werden gesponnen, Mobbing ist allgegenwärtig.
Die Medien tun das Ihrige dazu. Hier wird die neue Spaßgeneration noch zusätzlich angeheizt. Schönheit und Zeitlosigkeit erhebt man zum allgegenwärtigen Monopol. Glorifizierte Statussymbole gelten als unantastbar. Sinn und Zweck des persönlichen Daseins sind verwischt: Ein Gefühl der "Planlosigkeit", Depression und Ohnmacht befallen die Gemüter.

Wer solchen äußerlichen Ansprüchen der modernen Zivilisation nicht (mehr) genügen kann, wird zum Außenseiter, sich selbst überlassen und verstoßen. Dies ist auch mit den fünf Protagonisten in Jan Weilers Buch "Drachensaat" passiert. Sie gehören zu den Ausgestoßenen.

Das Zens-Syndrom - eine neue Zivilisationskrankheit
Da ist zum einen Bernhard Schade, ein typischer Vertreter der oben beschriebenen "Spaßgesellschaft", der als angesehener Architekt jahrelang seine Frau betrügt und seinen behinderten Sohn flieht. Bis es an dessen 18. Geburtstag zu einer Eskalation kommt. Schades Welt zerbricht, und er bestreitet fortan sein Dasein als Säufer und "Hartz IV-Empfänger". Sein geplanter Selbstmordversuch während der Bayreuther Wagnerfestspiele lässt ihn letztendlich mit der Psychiatrie Bekanntschaft schließen.

Rita Bauernfeind wiederum, eine schwergewichtige Büroangestellte, hat vor einiger Zeit festgestellt, dass sie in ihrem Kopf Radioprogramme empfangen kann. Als "die fette Frau, die Luft isst" feststellt, dass diese auch noch vorzüglich schmecken, stellt sie ihre Ernährung auf lang- und kurzwellige Frequenzen um und magert dadurch von ursprünglich 200 kg auf einige 40 kg ab.

Dritter im Bunde ist der homosexuelle türkische Paradiesvogel Ünal Yilmaz, der alles und jeden verklagt. Sprachlich gewandt und auf Höflichkeit und Korrektheit bedacht, macht ihm sein Leben als Busfahrer und die damit verbundene Auseinandersetzung mit dem "Pöbel" schwer zu schaffen. Ein Aussetzer lässt ihn eines Tages seinen vollbesetzten Bus "entführen".

Bleiben noch der extrem verschüchterte Postbote Arnold März, der sich nicht traut, Briefe korrekt zuzustellen, sie dann aber feinsäuberlich zu Hause stapelt und sortiert, bis dies die Statik seiner Decke nicht mehr aushält, und als letzter Benno Tiggelkamp, der seine tote Mutti neun Jahre in seinem Wohnzimmer sitzen lässt, weil er sich nicht von ihr trennen kann.

Fünf Personen, die die sogenannte Toleranz der Bevölkerung auf eine harte Probe stellen. Weiler wählt hier wirklich alle gängigen Klischees, die vielerorts auf ein Ausgrenzen in der Gesellschaft hinführen: Ausländer, Schwule, Übergewichtige, "Muttersöhnchen" usw. Nur Einer findet ihr "Anderssein" faszinierend: Dr. Heiner Zens. Der hat die illustre Gruppe in seinem neu gegründeten Sanatorium "Haus Unruh" versammelt und macht den Beteiligten klar, dass nicht sie die Kranken sind, sondern die Gesellschaft am sogenannten Zens-Syndrom, einer neu entdeckten Zivilisationskrankheit, leidet. Er vergleicht seine Patienten mit Kämpfern der antiken Argonautensage. Dort wuchsen aus in Furchen gestreuten Drachenzähnen geharnischte Männer heran. Nach anfänglichem Zögern ist die Gruppe begeistert, die Drachensaat ist geboren. Zens schlägt ihnen vor, den Manager Barghausen zu entführen, um die Aufmerksamkeit der übrigen Gesellschaft zu erlangen. Dass sich das Projekt des fadenscheinigen Doktors letztendlich verselbstständigt, damit hat er nicht gerechnet.

"Unser Doktor benötigte Gescheiterte, Unglückliche, die außerdem als, so der juristische Terminus, relative Personen der Zeitgeschichte ein gewisses Maß an Öffentlichkeitswirksamkeit mitbrachten, um den vollen Effekt ihres großen Handlungsexzesses zu bewirken. Aus solchen Typen, also uns, konnte er Wütende machen. Unter Zens’ Leitung hatten wir im Therapiegespräch längst die Schuldigen gefunden, auch für Arnolds Leiden. Die anderen hatten ihn, den geborenen Schwächling, erst zu dem seelischen Sondermüll gemacht, für den er sich hielt", stellt Bernhard Schade am Ende fest.

Keine schlüssigen Charakterisierungen
Auf knapp 400 Seiten versucht Jan Weiler aus einer Mischung Tiefgründigkeit, Nachdenkenswertem, Humor und Satire dieses durchaus interessante Thema aufzugreifen und zu präsentieren. Doch eine schlüssige Umsetzung ist ihm nicht gelungen. Zu klischeebeladen sind seine Protagonisten und die einzelnen Handlungsstrukturen, zu verwaschen seine personifizierten Charaktere. So gesteht der "böse" Manager reumütig seine "Verfehlungen", für die es natürlich eine schlüssige Ursache gibt, wohingegen die Viten einiger "Drachensaat"-Mitglieder schon ein gehöriges Maß an Verständnis voraussetzen. Die ständigen Überzeichnungen sind nicht glaubwürdig.
Dies könnte natürlich ein Stilmittel des Autors sein, der den Leser gezielt auf eine falsche Fährte locken und ihn sein Toleranzverhalten austesten lassen möchte.

Auch mag die gewählte Dreiteilung des Romans ein Kunstgriff sein, der jedoch der Gesamtkonzeption nicht dienlich ist. Redundanzen vor allem im dritten Abschnitt, der die Geschehnisse aus einzelnen Medienberichten zusammenstückelt, beeinträchtigen die Rezeption enorm. Das ernste Thema liegt unter dem oberflächlichen Humor und der nicht schlüssigen Charakterisierung aller Personen verschüttet und erreicht den Leser letztendlich nicht dort, wo es "richtig wehtut".

Natürlich wird man am Ende ausrufen: "Ihr müsst tolerant sein, um ein friedliches Miteinander zu gewährleisten. Ihr müsst Rücksicht und Achtung voreinander haben! - Das sind die Grundpfeiler einer glücklichen und funktionierenden Gesellschaft!" Aber welchen Anreiz es gibt, ein tieferes, fortwährendes Toleranzverständnis zu entwickeln, das unweigerlich auch mit einem Abbruch, einer Änderung oder Einschränkung der eigenen Lebenseinstellung und Lebensgewohnheiten einhergeht, diesen lohnenswerten Weg hat Weilers Roman nicht aufgezeigt.

Fazit:
Jan Weiler übt Kritik an der Politik, der Wirtschaft, den Medien und letztendlich an der Gesellschaft, doch er skizziert zu stark in Schwarz und Weiß. Er lässt dem Leser keine Möglichkeit zur eigenständigen Gedankenentwicklung und der rationellen Auseinandersetzung mit einem ernsthaften Thema. In "Drachensaat" wird ein diffiziles Thema als leichte Kost und häppchenweise serviert. Ein subtilerer Einsatz differenzierter Farbnuancierungen hätte dem Werk auf jeden Fall besser zu Gesicht gestanden.

(Heike Geilen; 10/2008)


Jan Weiler: "Drachensaat"
Gebundene Ausgabe:
Kindler, 2008. 398 Seiten.
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Taschenbuchausgabe:
Rowohlt, 2010.
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