Cécile Wajsbrot: "Aus der Nacht"


Ähnlich, wie das die israelische Schriftstellerin Lizzie Doron auf beeindruckende und erschütternde Weise ihren Büchern tut, zuletzt in dem sehr empfehlenswerten Buch "Der Anfang von etwas Schönem" (Jüdischer Verlag 2007), spürt auch die französische Schriftstellerin Cécile Wajsbrot in diesem Roman der Frage nach, wie die Kinder der Überlebenden der Shoa ihr Leben bewältigen können, wie sie es schaffen, die dicke Mauer des Schweigens ihrer Eltern zu durchbrechen und einen inneren Kontakt zu schaffen zu dem, was doch auch ihre Geschichte ist. Im Unterschied zu Lizzie Doron, deren Mutter in Auschwitz war und die in Israel lebt, schreibt Cécile Wajsbrot aus einer französischen Perspektive.

Der Autorin selbst vergleichbar, lebt auch die junge Protagonistin des Romans in Paris. Sie hat lange mit ihrem Vater und dessen Schwester zusammengelebt, auch noch dann, als beide im Nebel der Alzheimer-Krankheit verschwanden; eine überzeugende Metapher für das konsequente Vergessenwollen dessen, was geschehen ist. "Sie", wie die beiden immer genannt werden, sind schon vor Beginn des Holocaust aus ihrer polnischen Heimat geflohen und haben sich in Frankreich niedergelassen, "begannen ein normales Leben zu führen und hielten sich für Bürger des Landes, das sie sich ausgesucht hatten. Und dann kamen wir, die Kinder, und trugen von Geburt an ihre Hoffnungen, denn wir sollten vollbringen, was sie nicht mehr hatten tun können, und sie verfielen auf den Gedanken, dass sie unsretwegen fortgegangen seien, da sie wussten, dass die Zeit eines Lebens nicht mehr ausreichen würde, um alles aufzuholen, sie konnten sich niederlassen, aber sie konnten keine Wurzeln fassen, keine neue Heimat finden, das mussten wir, und so tragen wir von Geburt an die Last ihres Lebens, sowohl die ihrer Enttäuschungen wie die ihrer Illusionen, und mussten Wünsche erfüllen, die nicht unsere waren. Aber die Wunde blieb ..."

Es ist diese schmerzende Wunde, welche die junge Frau dazu treibt, nach Osten zu reisen, dorthin nach Polen, von wo ihre Eltern vertrieben wurden und flüchten mussten. Schon als sie auf dem Bahnhof steht und auf den verspäteten Nachtzug nach Warschau wartet, gerät sie in einen inneren Dialog mit den elterlichen Stimmen der Vergangenheit. Sie hofft, mit ihrer Reise endlich Licht in die von unendlichem Leid geprägte und später komplett verdrängte Geschichte der Vergangenheit ihrer Familie zu bringen. Und noch bevor sie losgefahren ist, melden sie sich mit ihren Bedenken und Sorgen in ihrem Inneren und tragen, wie schon Jahrzehnte vorher, ihre Ängste und ihre  Rechtfertigungen vor. Dieser innere Dialog, der sich über das ganze Buch hinzieht und aus dem die junge Frau nicht eben siegreich hervorgeht, ist schmerzhaft und drückt die ganze Problematik der zweiten Generation aus.

Im Zug von Berlin nach Warschau trifft die Protagonistin auf eine Frau, die nach Auschwitz fährt, weil sie dort wohnt. Wie Cécile Wajsbrot schildert, was diese nach 1945 in Auschwitz geborene Frau erlebt, wie sie ihre Stadt wahrgenommen hat und wahrnimmt, hat der Rezensent in dieser Ausdruckskraft so vorher noch nirgends gelesen. Neben den inneren Kämpfen der jungen Frau sind diese Seiten einer Begegnung im Zug mit dem Gespräch über die Folgen der Vernichtung bei der zweiten Generation der Täter, Helfer und schweigenden Zeugen die stärksten des ganzen Buches.

Die junge Frau findet den Ort, von dem ihre Vorfahren vor dem Krieg aufgebrochen waren, sie sieht auch den Fluss, in dem ihr Onkel ums Leben kam, und kommt ihm innerlich näher, und sie besucht den teilweise erhaltenen Friedhof des Dorfes, in dem einige jüdische Grabsteine erhalten geblieben sind.

Die einzelnen Abschnitte des Romans werden eingeleitet mit Reflexionen über die Schneeeule und ihre Lebenswelt. Gegen Ende formuliert die Autorin, wie um die Schneeeule zu ihrem Vorbild zu erwählen:
"Die Schneeeule flieht vor nichts, denn nichts kommt an sie heran, sie ist das Wesen und die Gegenwart - das Ganze."

Ein beeindruckender Roman aus der zweiten Generation der Überlebenden des Holocaust, der wie auch die Bücher von Lizzie Doron zeigt, dass sie diese Vergangenheit nicht werden abschütteln können, sondern sich permanent damit auseinandersetzen müssen. Wie die dritte Generation damit umgehen könnte, zeigt Jonathan Littell in seinem ebenso voluminösen wie umstrittenen Roman "Die Wohlgesinnten" (Berlin Verlag 2008).

(Winfried Stanzick; 04/2008)


Cécile Wajsbrot: "Aus der Nacht"
(Originaltitel "Mémorial")
Aus dem Französischen von Holger Fock und Sabine Müller
Liebeskind, 2008. 219 Seiten.
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Cécile Wajsbrot wurde 1954 in Paris geboren. Sie studierte Literaturwissenschaft und arbeitete anschließend als Französischlehrerin und Rundfunkredakteurin. Heute lebt sie als freie Schriftstellerin abwechselnd in Paris und Berlin.

Weitere Bücher der Autorin:

"Mann und Frau den Mond betrachtend"

In Berlin weiht ein Schriftsteller eine Straße ein, die den Namen Caspar David Friedrichs tragen soll. Um ihn herum entsteht eine neue Stadt, er jedoch hat nur Augen für ihre immer noch sichtbaren Ruinen, in denen sich die unerfüllten Träume der Menschen widerspiegeln. In seiner Rede beschreibt er einfühlsam neun Bilder Caspar David Friedrichs, die für ihn unsere heutige Zeit vorwegnehmen: die Zerrissenheit der Menschen, ihre Sorgen und ihre Einsamkeit. Von jedem Bild schlägt er den Bogen zu seinem eigenen Schicksal als einst gefeierter Schriftsteller. Unter den Baukränen Berlins, zwischen halbfertigen Häusern und Straßen, erzählt er von seiner Begegnung mit einer Frau, die ihn als Dichter inspirierte und sein Leben für immer veränderte. (Liebeskind)
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"Im Schatten der Tage"
Léna und Jason lernen sich in der Pariser U-Bahn kennen. Aus verhaltener Sympathie entsteht rasch Zuneigung, einige Wochen lang treffen sie sich jeden Tag an der Haltestelle Barbès. Für Léna sind diese Treffen Gelegenheit, ihrem bedrückenden Leben für kurze Zeit zu entkommen. Sie leidet unter ihrer despotischen, ans Bett gefesselten Mutter, für die sie aufopferungsvoll sorgt. Eines Tages jedoch kann Jason aufgrund eines Streiks in der U-Bahn nicht wie vorhergesehen zu ihrem Treffen kommen ...
Aniela, die aus Osteuropa geflüchtet ist und sich illegal in Paris aufhält, lernt schnell die Schattenseiten der Stadt kennen. Bald schon muss sie sich eingestehen, dass ihr Traum von einem besseren Leben in Paris eine Illusion war. Als sie Jason in der U-Bahn kennenlernt, verliebt sie sich. Durch ihn schöpft sie Hoffnung in einer Welt, in der sie sich ausgegrenzt fühlt. Als sich jedoch die Wege von Aniela und Léna kreuzen, nimmt das Schicksal seinen fatalen Lauf. (Liebeskind)
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"Der Verrat"
Ein alter Mann und seine Vergangenheit, eine Radioreporterin auf der Suche nach Gerechtigkeit, eine junge Frau in den Fängen der Geschichte: Cécile Wajsbrot erzählt in ihrem Roman eine bewegende Geschichte über verdrängte Schuld, unerfüllte Hoffnungen und die Zerbrechlichkeit der Menschen.
Bevor Louis Mérian in den Ruhestand ging, war er über dreißig Jahre lang einer der bekanntesten Radiosprecher des Landes. Schon als Kind hörte die Rundfunkredakteurin Ariane Desprats ihm jeden Tag zu. Eine Sendereihe über die Geschichte des französischen Rundfunks führt die beiden zusammen: Ariane Desprats lädt Louis Mérian ein, an ihrer Sendung teilzunehmen und von seiner Zeit beim Radio zu berichten. "Und was haben Sie im Krieg gemacht?" Ariane Desprats, deren Familie während der Besetzung von Paris deportiert wurde, stellt diese Frage nur beiläufig, doch Louis Mérian findet von nun an keine Ruhe mehr. Zu überwältigend ist die Erinnerung an eine junge Frau, die er liebte, aber nicht retten konnte: Sarah.
Mit ihrer lyrischen, atmosphärisch dichten Prosa beschreibt Cécile Wajsbrot, wie die Last der Vergangenheit und das Schweigen, das die Täter ebenso umgibt wie die Opfer, das Leben der nachfolgenden Generationen bestimmen. "Der Verrat" ist Cécile Wajsbrots persönlichstes Buch, ein berührender und zugleich aufwühlender Roman. (Liebeskind)
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Noch ein Buchtipp: 

Jonathan Littell: "Die Wohlgesinnten"

Der fiktive Lebensbericht eines hohen SS-Offiziers, ein Epos, das ein detailliertes Bild des Zweiten Weltkriegs und der Verfolgung und Vernichtung der Juden durch die Nationalsozialisten zeichnet.
"Die Wohlgesinnten" wurden von der Kritik mancherorts als ein neues "Krieg und Frieden" gefeiert: die fiktiven Lebenserinnerungen des SS-Obersturmführers Maximilian Aue, Jahrgang 1913, Sohn eines deutschen Vaters und einer französischen Mutter, promovierter Jurist, frühes NSDAP-Mitglied, in die SS eingetreten, um sich der Strafverfolgung nach §175 zu entziehen, aber lebenslang seiner Zwillingsschwester inzestuös verbunden.
Es sind die verstörenden Erinnerungen an die Schauplätze des Zweiten Weltkriegs und an das Grauen der Verfolgung und Vernichtung der Juden von Juni 1941 bis April 1945, an die Einsatzkommandos und Massenhinrichtungen in der Ukraine und im Kaukasus, an Babi Jar, den Kessel von Stalingrad, Auschwitz und Krakau, an Mittelbau Dora, das besetzte Paris oder das kriegszerstörte Berlin.
Es sind die beklemmenden Erinnerungen an all die Begegnungen mit den Nazigrößen, an Himmler, in dessen persönlichen Stab Aue 1943 aufgenommen wird, an Abendessen mit Eichmann, an Heydrich, Höß oder Speer.
Es ist ein erschreckend detailgenauer Roman über die nazistischen Verbrechen, konsequent erzählt aus der Perspektive eines Täters, der sich nach dem Zweiten Weltkrieg in die sichere Existenz eines Fabrikdirektors in Frankreich gerettet hat. (Berlin Verlag)
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