Mariolina Venezia: "Tausend Jahre, die ich hier bin"


Der Wind aus dem Basento-Tal

Auf grandiose Weise schildert Mariolina Venezia in einer poetisch-magischen Sprache und mit den Mitteln des psychologischen Romans des 19. Jahrhunderts das Schicksal einer süditalienischen Familie über fünf Generationen, eng eingebunden in einen historischen Kontext, mit allen Höhen und Tiefen dieser Epochen.
Hauptschauplatz ist die süditalienische Basilicata mit ihren Mythen und Legenden und ihrem schmerzvollen Weg in die Moderne.

Eine stille und einsame Region ist die Basilicata, nach ihren Bewohnern auch Lukanien genannt. Im Süden, tief unten im italienischen Stiefel, liegt sie, zwischen Apulien im Osten, Kampanien und Kalabrien im Westen. Eine im Schatten berühmterer Landschaften stehende Gegend. Besucher verirren sich höchst selten in die sonnendurchglühte, unzugängliche, aber dennoch faszinierende Gegend zwischen Absatz und Sohle des italienischen Stiefels.
In historischer Zeit ständig von rivalisierenden Kämpfen geprägt, (zuerst die Griechen gegen die Einheimischen [Samniter und später Römer] und später die Römer gegen die Invasoren [Pyrrhus und Hannibal]), konnte sie nicht einmal während der langen und friedlichen Jahrhunderte des Reichs eine echte wirtschaftliche oder kulturelle Bedeutung erlangen.

Ein raues und hartes Land, das nur Sonne im Überfluss hat und zu den ärmsten und unfruchtbarsten Gegenden des gesamten Südens zählt: ein mysteriöser Landstrich, von einer typischen Bauernkultur geprägt, wo das Leben nach althergebrachten Rhythmen abläuft und wo man noch immer auf die Lösung vieler sozioökonomischer Probleme wartet.
So arm und eingeschlossen die Basilicata auch war, hat sie den nachfolgenden Generationen einen Schatz von großem Ausmaß hinterlassen: einen uralten und traditionellen Volksglauben.

Familiengeschichte über einen Zeitraum von 128 Jahren
Diese Region ist die Heimat der 1961 in Matera geborenen Autorin Mariolina Venezia. Mit "Tausend Jahre, die ich hier bin" gelang der Süditalienerin, die mittlerweile in Rom lebt, ein Sensationserfolg in ihrem Heimatland. Das Buch stand nicht nur an der Spitze der Verkaufsbestenlisten, sondern wurde gleichfalls mit dem hoch angesehenen "Premio Campiello" ausgezeichnet.
Venezia erzählt die Geschichte einer Familie aus Grottole, die des Don Francesco Falcone und der Mutter seiner sieben Kinder Concetta (heiraten sollten sie nie). Doch nicht nur deren Geschichte(n), sondern auch die ihrer Kinder und Kindeskinder. Ihre Betrachtungen umspannen ganze fünf Generationen.

Zwei ebenso denkwürdige wie markante Daten hat sie sich für den Beginn und das Ende ihrer Erzählung ausgesucht. Zum einen die Vereinigung zum Königreich Italien im März 1861, zum anderen der Zusammenbruch des kommunistischen Systems in Osteuropa und der Fall der Berliner Mauer am 09./10. November 1989, mit dem Mariolina Venezias Familiensaga ausklingt.
Dazwischen liegt ein Zeitraum von 128 Jahren, in denen sie von unseligen Verwicklungen, die mit der Geburt des ersten Jungen Don Francescos begannen, berichtet. Größenteils sind es jedoch die Frauen, denen die Autorin ihre Aufmerksamkeit widmet und die hier - vielleicht wie auch im wahren Leben - die eigentlichen Herrscherinnen sind.
Hilfreich im Wirrwarr der Generationen und ihrer Mitglieder ist ein kleiner Stammbaum, den die jüngste Vertreterin - Gioia - ihrer Großmutter Candida bei einem ihrer letzten Treffen aufzeichnet und der am Beginn des Buches abgebildet ist.

Gioia, die Entwurzelte, Zerrissene, die als Einzige den Ausbruch aus dieser anarchischen Tradition wagt und von zu Hause wegläuft, später in einem Erotik-Callcenter in Paris landet und nach einem persönlichen Zusammenbruch wieder in die Heimat zurückkehrt, denn "das Glück kam von weit her", erkennt Gioia, "Von noch weiter her. (...) Ein uraltes Glück, das sie vergessen hatte, das irgendwo jedoch erhalten geblieben war."
Doch letztendlich muss auch sie feststellen: "Das Ureigene, Wesentliche, das sich über Jahrhunderte gehalten hatte, über Jahrtausende, hatte sich innerhalb weniger Jahre aufgelöst, und niemand schien es bemerkt zu haben. Sie, die mit Füßen danach getreten hatte, bedauerte plötzlich diesen Verlust, und ohne eine Träne zu vergießen, begrub sie es nun."
Mit diesen Worten - einem Hauch von Melancholie - endet dieser magische Roman.

Chronologisch angelegtes Zeitenepos
Dazwischen liegen zum Teil große geschichtliche Ereignisse, die die Region - trotz ihrer Abgeschiedenheit - streifen. Das sind, neben der nationalen Einigung, der Kampf gegen die Briganten (1861-63), bei dem 120.000 Soldaten ihr Leben lassen sollten, der Erste und Zweite Weltkrieg, die Einflüsse der Kommunistischen Partei, die Ermordung des christdemokratischen Politikers Aldo Moro durch die Roten Brigaden am 9. Mai 1978 und das Ende des Kalten Krieges. All dies verknüpft die Autorin mit den zahlreichen persönlichen Einzelschicksalen.
In einem ungeheuren Tempo, beinahe ohne Luft zu holen, lässt sie die Figuren - eingebettet in ihren geschichtlichen Hintergrund - vorbeiziehen. "An manchen Tagen erhob sich ein bunter Wind, der so viel Staub aufwirbelte, dass alles in die Höhe stieg wie Brotteig unter einem Tuch. Ereignisse, die bereits geschehen waren, wurden Gegenwart, und die, die erst noch geschehen sollten, gaben sich zu erkennen." Genauso könnte man die Romanstruktur Mariolina Venezias bezeichnen.
Obwohl die Geschichte chronologisch angelegt ist, sind immer wieder gedankliche Einschlüsse aus der letzten Gegenwart, der von Gioia - der Ur-Ur-Enkelin Don Francescos und Concettas - enthalten. Gioia fungiert über weite Strecken als auktoriale Erzählerin, bevor sie im dritten Teil des Buches selbst zur Protagonistin wird.

"Diese Geschichte jemandem zu erzählen, der das Basento-Tal nicht kennt, ist kein leichtes Unterfangen ...", leitet Gioia, das Alter Ego der Autorin - das letzte Kapitel ein. Ihre einzelnen Schicksale verknüpft sie zu einer einzigen großen Geschichte, "wie bei einem Spitzendeckchen, das am Anfang nur aus einer Reihe Luftmaschen besteht, Kettenstichbögen, Rhomben, Stäbchen, aber am Ende ein riesiges Muster darstellt, ohne jede Bedeutung, wenn man von der ganzen Zeit und Liebe absieht, die in es hineingesteckt wurden. (...) Mir kommt's bald so vor, als wär ich schon tausend Jahre hier."

Erkundung von Seelenlandschaften
Mariolina Venezia hat einen atmosphärisch dichten Roman in einer poetisch-magischen Sprache geschrieben, der durch Susanne Van Volxem, ohne seinen Zauber einzubüßen, wunderbar leichtfüßig aus dem Italienischen ins Deutsche übertragen wurde. Zudem entwickelt die Autorin einen fabelhaft subtilen Humor und verfügt über die Gabe, dem Leser beinahe alle Familienmitglieder - auch wenn sich einige nicht gerade durch besondere Liebenswürdigkeit auszeichnen - ans Herz wachsen zu lassen.

In einem Interview erklärte die Autorin: "Es sollte ein Roman werden, in dem Seelenlandschaften erkundet werden. Ich wollte zeigen, wie eine bestimmte Kulturlandschaft mit ihrer Geschichte und ihrer Geografie, ihrer Beschaffenheit, die innere Lage eines Individuums beeinflussen kann." Dies ist ihr hervorragend gelungen.
Zudem hat sie einen Landstrich aufleben lassen, dessen bäuerliche Gesellschaft vielleicht zu radikal mit der Moderne konfrontiert wurde.

Heute ist die Basilicata eine Region, die zu neuer Vitalität erwacht. Sie besinnt sich auf ihre faszinierende politische Geschichte und auf ihre seit Jahrhunderten bestehende Mischung italienischer, lukanischer und griechischer Kultur, die sich in der Architektur, in der Sprache, der Musik, ihrer Küche und ihrer Tradition der mündlichen Überlieferung ausdrückt. "Es gibt zahllose Märchen und Kinderreime", so die Autorin. Ein paar davon hat sie jeweils an den Anfang ihre Kapitel gesetzt.

Italien, so lautet die frohe Botschaft, hat ein vielfältigeres Gesicht als man gemeinhin annimmt; es gibt noch viele Regionen, besonders im Süden, zu entdecken - und unter ihnen eine ganz besonders reizvolle: die Basilicata!

Fazit:
Mariolina Venezia verarbeitet in "Tausend Jahre, die ich hier bin" ihre eigene Familiengeschichte und verwebt Anekdoten und Legenden ihrer Kindheit mit historischen Umbrüchen, die der Süden Italiens zu verkraften hatte.
Ein großartiges Zeitengemälde.

(Heike Geilen; 05/2008)


Mariolina Venezia: "Tausend Jahre, die ich hier bin"
(Originaltitel "Mille anni che sto qui")
Aus dem Italienischen von Susanne Van Volxem.
Piper Verlag, 2008. 294 Seiten.
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Mariolina Venezia, 1961 im süditalienischen Matera geboren, lebt heute in Rom. Sie hat ein Diplom der "Scuola Nazionale di Cinema" und schreibt Drehbücher, wofür sie diverse Auszeichnungen erhielt. Als Regisseurin drehte sie bereits mehrere Dokumentarfilme und war bei den Filmfestspielen in Cannes und Berlin vertreten. Im Jahr 2007 erhielt Mariolina Venezia den renommierten "Premio Campiello". Dieser italienische Literaturpreis wird seit 1962 jedes Jahr von den Industriellen der italienischen Region Veneto (Venetien) ausgeschrieben.