Dragan Velikić: "Das russische Fenster"
"Ich
bin ein Tourist im eigenen Leben - ein Buch der Wiedererkennung.
Ich bin am falschen Ort geboren. Es ist keine Einbildung, dass es
woanders stets besser ist, denn es ist wirklich so. Man ahnt es im
Voraus. Ich spürte diesen falschen Ort schon immer und habe
deshalb auch immer ohne jedes Lokalkolorit gelebt. Sich selbst Umgebung
sein, so habe ich gelebt."
(Seite 38)
Schlussendlich erkennt Rudi Stupar, der serbische Intellektuelle, sich
und sein persönliches Scheitern wieder, doch dazu bedarf es
zahlloser freiwilliger und unfreiwilliger Ortsveränderungen.
"Das russische Fenster" ist ein Reise- und gleichzeitig ein
Bildungsroman, aber ist es nicht die universitäre, sondern die
Bildung angesichts der kleinen Freuden und der großen
Nöte des Lebens.
Weder die vermeintliche Weltoffenheit der Heimatstadt Pula am Meer noch
die intellektuelle Auseinandersetzung mit der europäischen
Kultur im Rahmen des Germanistikstudiums machen aus Rudi das, was man
einen gebildeten und weltoffenen Menschen nennen könnte; er
bleibt ein Kleinbürger der jugoslawischen Provinz. Erst die
Flucht nach Ungarn und Deutschland und zahlreiche Rückblicke
auf Kindheit und Jugendtage lassen die Selbsterkenntnis, auch die des
eigenen Scheiterns, reifen.
Der unsicher umherschweifende literarische Blick des Protagonisten
schwenkt am liebsten in die nahe und ferne Vergangenheit, zu den
kleinen Freuden des Alltags, zu Familie, Liebschaften, Reisen, Fotos,
Träumen. Im inneren Monolog wie auch in der zweiten
Hälfte des Buches in der dritten Person sprudeln die
Erinnerungen nur so aus ihm heraus und geben kurzen Episoden eine
heitere, teils auch melancholische Spannung, die dem Buch aber
insgesamt fehlt. Aus diesen sehr persönlichen Perspektiven
stellt sich die stete Frage, welche der Erinnerungen real und welche
bloß imaginär sind. Oder sollte man umgekehrt
fragen, welche imaginär und welche nur real sind?
In der Rückschau verknüpfen sich Erinnerungen zu
Sinnbildern; besonders das Reisen wird zum Symbol des Heimat- und
Familienverlusts: der Großvater war Bahnhofsvorsteher an der
Linie des Orientexpress in Südserbien, der Vater Seemann und
Rudi ein Flüchtling und eifriger Nutzer des
öffentlichen Verkehrs.
Leser aus dem ehemaligen Jugoslawien werden in diesem teilweise wohl
auch autobiografischen Roman des derzeitigen serbischen Botschafters in
Österreich zahlreiche Anknüpfungspunkte
an das eigene
Leben vor und nach der Auflösung des Heimatlandes und
während der nachfolgenden politischen und sozialen Wirrnisse
finden. Wohl nicht zuletzt deshalb war das Buch seit seinem Erscheinen
in Serbien monatelang Nummer 1 der serbischen und montenegrinischen
Verkaufsbestenlisten.
Dragan Velikić hat dafür auch die wichtigsten serbischen
Literaturpreise ("Meša-Selimovic-Preis" 2007, "Nin-Preis"
2008) erhalten; auch der "Mitteleuropapreis" 2008 des "Instituts
für den Donauraum und Mitteleuropa" gebührte ihm.
Nicht die Handlung macht diesen Roman lesenswert; doch ist "Das
russische Fenster" ein gelungener Roman zeitgenössischer
serbischer Lebensbilder.
(Wolfgang Moser; 10/2008)
Dragan
Velikić: "Das russische Fenster"
(Originaltitel "Ruski prozor")
Aus dem Serbischen von Bärbel Schulte.
dtv premium, 2008. 399 Seiten.
Buch
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